Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben stellt mir Fallen. Etwa im Zusammenspiel von Wahrnehmung und Erinnerung. Wenn ich meinen Sohn sehe, bin ich beeindruckt davon, wie schnell er Dinge lernt und wie gut er sich entwickelt, gleichzeitig freue ich mich darüber, wie klein er noch ist. Und dann frage ich mich: War ich in seinem Alter nicht schon größer? Und damit meine ich nicht die Körperlänge, sondern die Reife. War ich als Achtjähriger nicht »erwachsener« als er heute?
Die ehrliche Antwort ist: Ich weiß es nicht. Zum einen habe ich ein miserables Gedächtnis, zum anderen habe ich mich damals ja aus einer ganz anderen Perspektive erlebt als ihn jetzt. Aber etwas in meinem für Wahrnehmungsfallen empfänglichen Kopf sagt mir, dass es Indizien gibt.
Heute habe ich meinem Sohn beim Fußballtraining zugesehen. Er ist ein guter Fußballer, zeigt das aber nur bedingt. Wenn er mit mir oder unseren Nachbarn spielt, dribbelt, passt, flankt, schießt, klammert, zerrt und foult er, als sei er eine Mischung aus dem jungen Diego Maradona und dessen Kryptonit aus dem WM-Finale 1990, Guido Buchwald. Sobald aber Kinder oder Erwachsene in der Nähe sind, die er nicht ganz so gut kennt wie uns, hält er sich vornehm zurück. Er hat mir das auch mal erklärt, als ich ihn darauf ansprach: Bei den anderen wisse er ja nicht, ob die in Zweikämpfen so hart zur Sache gehen, dass er sich vielleicht verletzt.
Man kann sagen, er hat ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Im vergangenen halben Jahr hat er einen großen Schritt nach vorn gemacht und mehr Zutrauen in seinen Körper und seine Durchsetzungsfähigkeit gewonnen – auch gegenüber Kindern, die er nicht einschätzen kann. Heute habe ich ihn zum ersten Mal beim Training grätschen sehen. Ich war ein bisschen stolz, fragte mich aber auch, ob es für mich in dem Alter nicht vollkommen normal war, so energisch zur Sache zu gehen.
Insgesamt überrascht es mich, dass die Acht- und Neunjährigen noch in der F-Jugend spielen. In meiner Erinnerung waren F-Jugendliche immer Sechsjährige, die zum ersten Mal gegen den Ball treten. Mit acht waren wir technisch und taktisch doch schon weiter und kurz vor dem Wechsel aufs Großfeld, oder?
Beim Fußball kann ich mir erklären, woher diese Einschätzung kommt. Wir haben in dem Alter in einem Liga- und Saisonsystem gespielt, also Woche für Woche Heim- oder Auswärtsspiele bestritten und überlegt, wie sich Ergebnisse wohl auf die Tabellensituation auswirken. Nach der Reform im deutschen Kinder- und Jugendfußball gibt es heute andere Spielformen wie Funino und kleine Turniere mit mehreren kurzen Partien, damit alle möglichst viel spielen. Das ist vermutlich der bessere Weg, und ich will es gar nicht bewerten. Doch so kann ich mir erklären, dass mein Sohn in dem Zusammenhang auf mich anders und irgendwie »kleiner« wirkt.
Aber meine Beobachtungen gehen über den Fußball hinaus. Und ich scheine damit nicht allein zu sein. Als ich mit meiner Frau darüber sprach, erinnerte sie sich, wie sie als Acht- oder Neunjährige allein mit dem Fahrrad kilometerweite Strecken zum Sport oder Musikunterricht zurückgelegt hat. Beim Gedanken, dass unser Sohn das tun könnte, fingen wir beide an zu lachen. Und das liegt nicht nur daran, dass er sich vermutlich weigern würde. Wir würden es wahrscheinlich auch gar nicht zulassen.
Sind wir Helikoptereltern, die unserem Sohn zu wenig zutrauen und ihn damit klein halten? Mit Blick auf seine Teilnahme am Straßenverkehr nicht unbedingt. Bis zum Alter von zehn Jahren sind Kinder bei Unfällen mit Kraftfahrzeugen nicht »deliktsfähig«. Manche Gerichte haben daraus geschlossen, dass Eltern ihre Kinder bis zum 10. Geburtstag beaufsichtigen, also auch begleiten müssen, wenn sie mit dem Fahrrad unterwegs sind. Tun sie dies nicht, haften sie für eventuell entstehende Schäden. Es gibt aber auch Urteile, in denen Eltern in solchen Fällen freigesprochen wurden.
Was die allgemeine Rechtsauffassung Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre war, kann ich nicht sagen. Aber in meiner Erinnerung haben sich meine Eltern darüber weniger Gedanken gemacht als meine Frau und ich heute. Sie haben irgendwann einfach gesagt, ich soll mit dem Fahrrad zum Fußball fahren. Und ich habe das dann gemacht. Der Comedian Felix Lobrecht zitiert im Podcast »Gemischtes Hack« gelegentlich seinen Vater mit dem schönen Satz: »Früher waren Kinder einfach nicht so wichtig.« Ich glaube, da ist etwas dran. Ob daraus folgt, dass Kinder heute jünger sind (oder wirken) als wir früher im selben Alter, weiß ich nicht. Aber der Gedanke scheint meine Wahrnehmung zu unterstützen – ohne dass ich sagen könnte, ob ich diese Entwicklung nun gut oder schlecht finde.
Was denken Sie? Gibt es in Ihrer Wahrnehmung einen Unterschied im Umgang von Kindern früher und heute? Und was folgt daraus? Sollten wir unseren Kindern mehr zutrauen und vielleicht auch mehr zumuten? Oder müssten wir uns noch viel mehr Gedanken über ihre Bedürfnisse machen? Sollten Kinder nicht insgesamt sogar noch wichtiger werden? Schreiben Sie mir Ihre Gedanken dazu gern an familiennewsletter@.de .
Meine Lesetipps
Immer wenn ich mir die oben beschriebenen Fragen stelle, muss ich an ein Interview denken, das meine Kollegin Heike Klovert vor einigen Jahren mit der Autorin Michaeleen Doucleff geführt hat. Die provokante Überschrift: »Wir sind zu weit damit gegangen, Kinder immer nur Kinder sein zu lassen«. Doucleff sagt unter anderem: »Wir beziehen die Kinder nicht mehr in unsere Erwachsenenwelt mit ein. Wir kreieren eine separate Kinderwelt, in der wir sie mit Aktivitäten und Spielzeug überschütten. Das ist ein großer Fehler, der massive Auswirkungen hat.« Hier können Sie das Gespräch in voller Länge lesen .
Auch die Pädagogin und Erziehungsberaterin Inke Hummel sagt: »Es ist wichtig, Kindern etwas zuzutrauen und Raum zu lassen.« Warum, erklärt sie in diesem Interview, das meine Kollegin Nathalie Klüver mit ihr geführt hat.
Wo ich gerade dabei bin, lesenswerte Interviews zu empfehlen, sollen aller guten Dinge drei sein. Beim ersten »echten« SPIEGEL-Elternabend, bei dem wir uns Mitte September in Hamburg mit Leserinnen und Lesern ausgetauscht haben, kamen wir in der Diskussion schnell auf das Thema Mediennutzung. Darüber haben meine Kolleginnen Fiona Ehlers und Silke Fokken mit der norwegischen Autorin Maja Lunde gesprochen. Norwegen galt immer als Vorbild für Digitalisierung an Schulen. Lunde sagt nun: »Macht nicht die gleichen Fehler wie wir!« Das aufschlussreiche Gespräch finden Sie hier .
Und weil ich mit Fußball eingestiegen bin, will ich auch mit Fußball enden. In der Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe von DEIN SPIEGEL geht es um die Frage, wie aus dem Profitraum Wirklichkeit werden kann.
Das jüngste Gericht
So viel kann ich vorwegnehmen: Um ein exzellenter Fußballer zu werden, muss man viel trainieren – und natürlich auch auf seine Ernährung achten. Wie gut, dass es im reichhaltigen Rezeptarchiv unserer Kochkolumnistin Verena Lugert so viele schöne Anregungen gibt, was man so alles Gesundes und Leckeres kochen kann. Meine Empfehlung für heute passt perfekt in die Jahreszeit: Pilzpolenta.
Sie »kommt mit einer Handvoll Zutaten aus und ist in wenigen Minuten gemacht«, schreibt Verena. Damit man nach einem herbstlichen Waldspaziergang »ganz rasch etwas Warmes in den Magen bekommt«. Hier finden Sie das Rezept . Viel Spaß beim Nachkochen und guten Appetit!
Mein Moment
In meinem letzten Newsletter sprach ich mich für einen späteren Schulbeginn aus, um morgens etwas länger schlafen zu können. Ich habe mir damit nicht nur Freundinnen und Freunde gemacht – vor allem nicht bei Lehrerinnen und Lehrern. Aber ich freue mich nicht nur über zustimmende Zuschriften, sondern auch über elaborierte Kritik wie diese hier:
»Zu meiner Schulzeit begann der Unterricht um 7:00 Uhr, in den letzten beiden Schuljahren hatte ich einen Schulweg von 45 Minuten, einfache Strecke. Da könnt ihr euch vorstellen, wann ich das Haus verlassen habe und aufgestanden bin. Seltsamerweise wäre ich, sind wir alle, nie auf die Idee gekommen, uns über den zeitigen Unterrichtsbeginn zu beschweren! Ich habe am Wochenende und in den Ferien auch gerne lange geschlafen, habe es aber immer sehr geschätzt und genossen, mittags zu Hause zu sein und einen schönen, langen, freien Nachmittag zu haben. Heute ist der Schulbeginn 8:15 Uhr, vor 16:00 Uhr ist mein Jüngster praktisch nie zu Hause.
Später – auch alleinerziehend! – habe ich in Schichten und rollender Woche auf der Intensivstation gearbeitet, Patienten versorgt, um Leben gekämpft, manchmal gewonnen, manchmal verloren, Angehörige aufgefangen, kurzfristige Dienstplanänderungen in Kauf genommen. Auch sonntags, auch an Feiertagen. Ein Balanceakt und organisatorische Höchstleistung, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. Arbeitsbeginn in der Frühschicht war 6:00 Uhr (Arbeitsbeginn!), vorher habe ich Frühstück gemacht und die Pausenbrote für meine Kinder geschmiert. Heute beschweren sich Eltern, dass sie um 6:30 Uhr aufstehen (aufstehen!) müssen, um die Kinder rechtzeitig zur Schule zu schicken? Ist das euer Ernst? Wirklich?!
Ja, die Zeit schreitet voran, es gibt neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Der Jugendliche mit seinem pubertären Gehirn steckt in einer gravierenden Anpassungsphase mit erhöhtem Schlafbedarf und zeitlicher Verschiebung der Schlaf-Wach-Phasen. Fragt sich nur, wie das die Generationen vorher in ihrer Pubertät gemacht haben und dennoch mit teilweise zumindest gefühlt deutlich besseren Abschlussnoten als heute von der Schule abgegangen sind.«
Ich verstehe den Punkt, wollte natürlich niemandem zu nahe treten, freue mich aber auch darüber, dass in Hamburg jetzt die Herbstferien beginnen und ich in den kommenden zwei Wochen wieder etwas länger schlafen kann.
Herzlich
Ihr Malte Müller-Michaelis
Grinsender Junge: Sollten wir unseren Kindern mehr zutrauen? (Symbolbild)
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