Das 92-Sekunden-Video, nach dem nichts mehr war wie zuvor

Verspätung der Saison: Für den FC Bayern war dieser 31. Mai ein Pflichttermin, Endspiel der Champions League in München, Finale dahoam, wie 2012. Nach dem Viertelfinale gegen Inter war der Traum vorbei. Es sind Kleinigkeiten, die solche Duelle entscheiden. Eine solche Kleinigkeit war womöglich die Nichtverpflichtung von Jonathan Tah im vergangenen Sommer. Der Transfer scheiterte vor einem Jahr an wenigen Millionen und dem Veto des Aufsichtsrats. Tah wäre aus heutiger Sicht der Innenverteidiger gewesen, den der FC Bayern gegen Inter gebraucht hätte, diverse andere hatten sich verletzungsbedingt abgemeldet. Die Pointe dieser Geschichte: Die Bayern haben Tah in diesen Tagen nun doch verpflichtet, pünktlich zum Endspiel und doch zu spät. (Lesen Sie hier das große SPIEGEL-Porträt über Jonathan Tah. )

Das Finale: In München treffen am Samstagabend Inter Mailand und Paris Saint-Germain aufeinander (21 Uhr/Liveticker SPIEGEL.de, TV: ZDF, Stream: DAZN). Auf der einen Seite die nicht kleinzukriegenden Italiener mit bisher in Deutschland eher unbekannten Fußballgöttern wie dem 37 Jahre alten Abwehrchef Francesco Acerbi, auf der anderen Seite der aus Katar finanzierte Pariser Klub. Seit 2011 verpflichtete das Emirat Weltstars wie Neymar, Lionel Messi oder Kylian Mbappé. Insgesamt wurden 2,3 Milliarden Euro für neue Spieler ausgegeben – ohne die Champions League zu gewinnen. Es könnte ausgerechnet jetzt gelingen, da mit Mbappé der vermeintlich letzte Superstar den Klub verlassen hat.

Die Vorgeschichte der Saison: Es ist ein 92 Sekunden langes Video , das vor einem Jahr in der letzten Saison von Mbappé bei PSG aufgenommen wurde. 92 Sekunden, in denen man viel versteht: über Trainer Luis Enrique, über den Stürmerstar und warum PSG ohne ihn auf einmal erfolgreicher ist. In dem Clip erklärt Luis Enrique seinem Superstar, was einen echten Champion ausmacht: Er müsse verteidigen, verteidigen, verteidigen. Erst das (und nicht nur Tore) mache ihn zu einem Anführer »wie Michael Jordan«. Am Ende des Videos kommt Mbappé erstmals zu Wort. »Ja«, sagt der Mann, der eher kein großer Verteidiger ist. Mbappé sagt noch ein zweites Mal: »Ja«. Dann steht er auf und geht.

Die Verwandlung: Bald danach war Mbappé endgültig weg, er ging zu Real Madrid. Das Team von Paris Saint-Germain wurde plötzlich wirklich eins: eine Mannschaft, die gemeinsam verteidigt (PSG gewinnt so viele Bälle und Zweikämpfe wie kein anderes Team) und angreift (kein anderes Team spielt so viele Angriffe und schießt so aufs Tor).

Trainer der Saison: Luis Enrique hatte schon vor der Saison angekündigt, dass PSG ohne den Superstar erfolgreicher werden könnte. Er behielt recht. Der Spanier hat in der Vergangenheit nicht nur Mannschaften trainiert. Nach seiner eigenen Profikarriere wurde Enrique Marathonläufer und absolvierte etwa den Florenz-Marathon 2007 in der bemerkenswerten Zeit von 2:58:08 Stunden. Beim Marathonlaufen kommt viel zusammen: Taktik, man muss Widerstände überstehen, Ausdauer und Disziplin sind gefragt. Alles ziemlich schnörkellos. All das findet man jetzt auch im Fußball von Luis Enrique in Paris.

Mann mit dem Hammer: Beim Marathonlaufen sollte man nicht gleich zu Beginn sein Pulver verschießen. Und diese Champions-League-Saison im neuen Modus war wie ein Marathon: Zunächst gab es ein Ligasystem mit acht Spieltagen anstelle der alten Gruppenphase. Anschließend folgte die K.-o.-Runde. Eine beträchtliche Strecke, und nach der »Halbzeit«, dem Ende der Liga, führte der FC Liverpool das Feld mit 21 Punkten aus acht Spielen an. Der Übergang von Jürgen Klopp zu Arne Slot lief besser als erwartet. Der Topfavorit auf den Henkelpott? Fortan der FC Liverpool. Es folgte das Achtelfinale gegen PSG, das die Ligaphase mit 13 Punkten gerade so überstand – und Liverpool schied aus. Beim Marathonlaufen würde man sagen: Bei Liverpool kam der Mann mit dem Hammer viel zu früh, Paris aber hatte sich die Strecke gut eingeteilt.

Fazit zum neuen Modus: Club Brügge, Aston Villa, Borussia Dortmund, OSC Lille, Real Madrid, Atlético, PSV, FC Arsenal, Feyenoord Rotterdam, Inter, Bayern München, Bayer Leverkusen, Paris Saint-Germain, FC Liverpool, Benfica, FC Barcelona. Bis auf wenige Ausnahmen bildete der Klub der üblichen Verdächtigen die 16 Achtelfinalisten. Zwar ermöglichte der neue Modus, dass es zu Beginn der Saison auch mal überraschende Tabellenführer gab (etwa Aston Villa nach drei Spieltagen). Die nun acht statt bisher sechs Gruppenspiele führten am Ende aber auch dazu, dass die Favoriten mehr Möglichkeiten bekamen, Niederlagen zu korrigieren.

Enttäuschung der Saison: Dass das Topteam Manchester City in der K.-o.-Phase fehlte, lag nicht am Modus. Im Gegenteil. Manchester City hätte sich nach nur drei Siegen in acht Spielen sogar noch einmal aus der Affäre ziehen können – in der Rettungsrunde, den sogenannten Zwischenplayoffs. Bitter nur, dass mit Real Madrid dort zufällig kein Leichtgewicht auf die Engländer wartete. Bei City hat man bereits im vergangenen Winter den Grundstein gelegt, damit sich dieses Szenario nicht wiederholt. Neben dem 25-jährigen Ex-Frankfurter Omar Marmoush kamen noch vier weitere junge, hoffnungsvolle Spieler für insgesamt 218 Millionen Euro Ablöse. Das hat sich bereits bemerkbar gemacht: Die Rückrundentabelle in England hat City vor Meister Liverpool für sich entschieden.

Aufsteiger der Saison: Raphinha vom FC Barcelona. Der Brasilianer erzielte 13 Treffer in 14 Spielen und bereitete acht weitere Tore vor. Der 28-Jährige war vor einem Jahr noch unglücklich bei Barça, jetzt ist er eine überragende Figur, laut Raphinha auch ein Verdienst von Trainer Hansi Flick. Zur Vollkommenheit Raphinhas gehört aber auch Barcelonas Ideengeber Lamine Yamal, das neue Wunderkind des Fußballs. Und Robert Lewandowski, der mit 36 Jahren der Vater des 17-jährigen Yamal sein könnte. Auch er erzielte 13 Treffer.

Tormaschinen der Saison: Insgesamt kam Barça auf 43 Tore – so viele schoss kein anderes Team. Dieser alternative Offensivfußball war fast titelreif. Es fehlte vermutlich nur ein letztes Puzzlestück: etwas mehr Stabilität. Wie man hörte, hatte Flick für diesen Sommer einen Wunschtransfer: Abwehrspieler Tah. Aber die finanzielle Schieflage des Klubs soll diesen Transfer verhindert haben.

Fußballschlacht der Saison: Nach dem 3:3 zwischen dem FC Barcelona und Inter im Halbfinal-Hinspiel war man sich eigentlich sicher: Eine solche Schlacht würde man so schnell nicht noch einmal erleben. Dann dauerte es nicht einmal eine Woche, bis Inter und Barça im Rückspiel noch eine Schippe drauflegten und sich in einem Verlängerungsdrama 4:3 voneinander trennten.

Torwart der Saison: Obwohl Inters Keeper Yann Sommer in den beiden Spielen sechs Gegentore kassiert hatte, galt der 36-Jährige und langjährige Bundesliga-Keeper hinterher dennoch als einer der großen Gewinner des Halbfinals. Mit seinem Alter steht Sommer für eine in die Jahre gekommene Inter-Mannschaft, die zwar großartig spielt, aber auch bei einem möglichen Titelgewinn nicht unbedingt zu den Favoriten im nächsten Jahr gehören würde.

Ausblick: Der Großangriff auf die nächste Champions-League-Saison beginnt bereits, ganz vorn dabei der FC Liverpool. Der deutsche Spielmacher Florian Wirtz soll den Reds 150 Millionen Euro Ablöse wert sein. Der FC Bayern gilt als großer Verlierer in der Wirtz-Causa . Wenn er nun aber das viele Geld für die wahrscheinlich größeren Baustellen im Kader – vorwiegend im Defensivbereich – einsetzt, könnte er auch der Gewinner dieser Geschichte werden. Zur Wahrheit gehört nämlich, dass Inter Mailand oder Paris Saint-Germain die Champions League gewinnen werden, nicht vornehmlich offensiv denkende Teams wie Real, Liverpool oder Barça. Den Titel erhält diesmal ein Team, das zwar keinen reinen Defensivfußball spielt, das aber, wenn es sein muss, eisern verteidigen kann. Für den FC Bayern könnte das eine Lehre sein.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, das Finale fände am Abend statt. Korrekt ist Samstagabend. Wir haben die Stelle angepasst.

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