In der 87. Minute war Jonas Urbig noch einmal zur Stelle. Ein harmloser Flachschuss von Jamie Leweling aufs kurze Eck, leichte Beute für den Münchner Torwart, eine letzte problemlose Bewährungsprobe. Urbig blieb somit ohne Gegentor.
90 Sekunden später hielt auf der gegenüberliegenden Seite des Spielfelds auch Alexander Nübel den Ball in den Händen. Er holte ihn nach dem Treffer von Harry Kane aus dem eigenen Tor. Für Nübel war es der fünfte und letzte Gegentreffer.
Der Nachmittag verlief sehr unterschiedlich für Jonas Urbig und Alexander Nübel. Für die beiden Torhüter, die als erste Anwärter gelten, eines Tages die Stammkraft im Tor des FC Bayern zu sein. Für die Kronprinzen, die Thronfolger. Für die potenziellen Nachfolger von Manuel Neuer nach dessen Karriereende.
Doch so eindeutig dieser Nachmittag verlief, so fehlerlos Urbig blieb und so unglücklich Nübel zumindest bei einem Gegentreffer und bei weiteren Aktionen wirkte: Eine Entscheidung über die künftige Münchner Nummer eins brachte das Spiel nicht. Darüber entscheiden ganz andere Faktoren. Vor allem die Zukunft von Manuel Neuer selbst.
»Ackern und rammeln«
Das 5:0 beim VfB Stuttgart war für die Bayern ein souveräner Sieg, nach zuletzt mühsamen Auftritten gegen den FC St. Pauli (3:1) und im Pokal bei Union Berlin (3:2), nach einer Niederlage in der Champions League beim FC Arsenal (1:3), nach zehn Gegentreffern in fünf Spielen.
Am Samstagnachmittag mussten die Bayern nicht bis zuletzt »ackern und rammeln«, wie Joshua Kimmich am Mittwoch die rustikale Abwehrschlacht in Berlin-Köpenick blumig umschrieb. Nur gegen Ende der ersten Halbzeit gerieten sie unter Druck, später beherrschten die Bayern den VfB recht souverän.
So lag die leicht prickelnde Brisanz an diesem Nachmittag vor allem im Duell der beiden Torhüter Nübel und Urbig. Beide sind beim FC Bayern unter Vertrag, der eine (Nübel) steht auf Leihbasis beim VfB Stuttgart im Tor, der andere (Urbig) sitzt zumeist auf der Münchner Ersatzbank.
Dass er nun von Beginn an spielen dürfe, das erfuhr der 22-Jährige von Vincent Kompany erst am späten Samstagvormittag, um elf Uhr, bei einem Spaziergang der Mannschaft. Von »einer Frage der Frische« sprach der Trainer, der in diesen anstrengenden Wochen Neuer auch eine Pause gönnen wollte, drei Tage vor dem wichtigen Champions League-Spiel gegen Sporting Lissabon.
»Der Manu hat grünes Licht gegeben« – diesmal
»Der Manu«, sagte Sportvorstand Max Eberl, habe für den Einsatz von Jonas Urbig »grünes Licht gegeben.« Das war bei Nübel einst noch ganz anders gewesen. Da stellte Neuer die Ampel gern dauerhaft auf Rot.
Zur Einordnung der Zusammenhänge ein Blick zurück ins Jahr 2020. Damals wechselte Nübel vom FC Schalke ablösefrei zu den Bayern. Nübel war 23, ein viel gelobtes Talent. Einem wie ihm, so hörte man auch an der Säbener Straße, gehöre die Zukunft.
Sein Auftreten war von Beginn an selbstbewusst, er kündigte Manuel Neuer einen harten Konkurrenzkampf an und erinnerte noch vor Saisonbeginn daran, dass er bei seinem Ex-Klub auch Ralf Fährmann als Nummer eins im Tor verdrängt habe.
Nur war Neuer bei den Bayern natürlich eine andere Instanz als Fährmann auf Schalke. Denn Neuer dachte natürlich nicht daran, seinen Platz zu räumen oder seinem Stellvertreter auch nur freiwillig Spielzeit zu gewähren.
So kam Nübel in seinem einzigen Jahr in München nur auf ganze vier, in der Regel durchweg bedeutungslose, Pflichtspiele. Bei den wirklich wichtigen Begegnungen stand Neuer im Tor. Und deswegen wurde Nübel in München auch nie glücklich.
So verliehen ihn die Bayern 2021 für zwei Jahre nach Monaco, 2023 dann nach Stuttgart. Nübels Leihfrist beim VfB endet im kommenden Sommer, sein Vertrag beim FC Bayern läuft noch bis Sommer 2029.
So wie auch der von Urbig, der Anfang 2025 vom 1. FC Köln nach München wechselte – und der sich anders als einst Nübel ohne Ansprüche in die Rolle des Neuer-Ersatzes fügte. In seinen 16 Pflichtspielen für die Bayern zeigte er meist eine sehr solide bis überzeugende Leistung. Er war da, wenn Neuer mal verletzt war oder eben eine Pause brauchte.
Erst vor wenigen Tagen sagte Manuel Neuer über Urbig in einem Interview« mit »Sky Sport«, und das klang schon sehr bestimmt: »Es ist für ihn kein Problem, dass er meine Nachfolge antreten kann und wird.«
Aber wird er das wirklich?
Viel hängt vor allem davon ab, wie lange Neuer noch in München spielt. Sein Vertrag läuft im Sommer 2026 aus, erst nach Beginn der Rückrunde soll es Gespräche mit den Klubbossen geben.
Sollte Neuer noch um ein weiteres Jahr verlängern, dann gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass Nübel aus Stuttgart nach München zurückkehrt, um sich dann wieder auf die Bank zu setzen. Im Raum stünde dann ein endgültiger Verkauf an einen anderen Klub.
Kommt es zu einem offenen Konkurrenzkampf?
Beendet Neuer 2026 aber doch seine Karriere, dann könnte es zu einem offenen Konkurrenzkampf um seine Nachfolge kommen – ob sich dann allerdings Urbig für die folgenden drei Jahre weiter als Dauerersatz auch hinter Nübel in die Reservistenrolle fügen würde, ist eher fraglich.
Urbig äußerte sich am Samstag nach Abpfiff sehr zurückhaltend auf die Frage zur Neuer-Nachfolge. »Der Alex ist ein sehr guter Torwart«, meinte er, »das ist das Einzige, was ich dazu sagen möchte.« Und die Frage zur künftigen Nummer eins bei den Bayern, »das sind Themen, damit beschäftige ich mich nicht.« Lieber gehe er nun gleich »in die Nachbereitung« des Spiels.
Brave Töne, die man bei den Bayern gern hört. Am Dienstag wird Urbig mutmaßlich wieder auf der Bank sitzen, natürlich ohne zu murren. Anders als der Ersatztorhüter der Saison 2020/2021 und anders als damals bei Nübel dürften ihm weitere Einsätze in dieser Spielzeit gewiss sein. Auch in Spielen von Bedeutung.
»Der Manu« gibt sicher gern wieder grünes Licht.
Alexander Nübel im Stuttgarter Tor: 5:0 stand es am Ende für die Bayern
Foto: Julia Rahn / Pressefoto Baumann / IMAGOManuel Neuer im DFB-Pokal an der Alten Försterei: Wer wird sein Nachfolger?
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