Waren Sie zu St. Martin auch mit Ihren Kindern bei einem Laternenumzug? Meine zweieinhalbjährige Tochter kommt nun endlich in das Alter, in dem solche Aktivitäten immer interessanter werden, weil man das Kind nicht nur mitschleppt, sondern es selbst daran teilhaben kann.
Auch Halloween hat dieses Jahr erstmals mit uns auf der aktiven Seite stattgefunden, der am anderen Ende der Süßwarenlieferkette. War das ein Spaß! Sie sehen, wir wählen unsere Bräuche nicht entlang konfessioneller Grenzen.
Aber zurück in den dunklen November, an dessen 11. Tag wir jüngst vor der hell erleuchteten Hamburger Michaeliskirche standen und mit vielen anderen Familien darauf warteten, dass der Laternenumzug beginnt. Ein Mann, offensichtlich obdachlos, fiel auf: Seine Haare waren verfilzt, und er stank.
Seitdem ich Vater bin, reagiere ich empfindlicher auf solche Situationen. Die Angst ums eigene Kind und der Wunsch, es so lange wie möglich vor dem Elend dieser Welt abzuschirmen, verändern einen. Ein anderer Obdachloser und dessen zerschlissene Hose beschäftigten meine Tochter kürzlich tagelang. Immer wieder fragte sie uns, warum der Mann vor dem Supermarkt »nackt« gewesen sei.
Um solche Menschen hätte ich auch früher ohne Kind einen Bogen gemacht, zumindest so lange kein akuter Notfall vorliegt. Man stumpft ab im Laufe seines Lebens. Weil man erkennen muss, nicht alle Probleme dieser Welt lösen zu können, nicht mal einen Bruchteil. Man ist schon froh, wenn der eigene Alltag unfallfrei verläuft. Manchmal ekle ich mich auch, oder bin genervt, oder in Eile.
»Hartherzig« war das Wort, das dazu in unserer St-Martins-Erzählung gebraucht wurde. Wie passend, dachte ich mir, als ich so dastand, den streng riechenden Mann neben mir und mein Kind auf meinen Schultern. Schließlich geht es in dieser Erzählung genau darum, sich nicht abzuwenden, stehen zu bleiben, zu helfen.
Ja, »Martin war ein frommer Mann« – wie viel ich von ihm lernen kann. Zunächst einmal, dass unsere Rituale und Traditionen einen tieferen Sinn haben als bloße Kulisse für das eigene Wohlgefühl zu sein. Das vergisst man im hektischen Alltag oft. Außerdem, die eigene Weltsicht zu hinterfragen. Statt eines Störgefühls hätte ich Mitgefühl empfinden können. Und wer entscheidet eigentlich, was ein »akuter Notfall« ist? Ging es dem Mann nicht offensichtlich schlecht?
Beim nächsten Mal reagiere ich anders, habe ich mir vorgenommen.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie eine besinnliche Vorweihnachtszeit. Passen Sie auf sich auf!
Wie ist das bei Ihnen? Wann haben Sie zuletzt gemerkt, dass Sie statt Störgefühlen mehr Mitgefühl empfinden sollten? Schreiben Sie uns an: familiennewsletter@.de . Einige Ihrer Antworten möchten wir veröffentlichen – auf Wunsch auch anonym.
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Das jüngste Gericht
Die Festtradition der Martinsgans geht auf die Legende zurück, dass sich der heilige Martin vor seiner Bischofswahl im Gänsestall versteckte – und von schnatternden Gänsen verraten wurde. Praktisch hat der Brauch damit zu tun, dass der Martinstag das Bauernjahr beschloss: Naturalabgaben, der Schlachttermin vor dem Winter und das letzte Festmahl vor der Fastenzeit. Für die Gans ist es zu spät. Daher folgt hier ein Rezept für Linsensuppe , ein Fastenklassiker aus dem deutschsprachigen Raum, wo man in christlichen Fastenzeiten traditionell auf Fleisch und üppige Kost verzichtete. Ob Sie sich den Speck und die Wienerle sparen, bleibt Ihnen überlassen.
Mein Moment
Zu meinem vergangenen Newsletter über einen angeblichen Parasitenbefall schrieb mir eine Mutter aus Nordrhein-Westfalen: »Unser Sohn wurde aus der Kita nach Hause geschickt, mit der Diagnose ›Läuse!‹, auch dafür gibt es viele Hygienemaßnahmen für Kinder und Kleidung. Nach großem Handgemenge im Bad – welches dreijährige Kind lässt sich schon gern den Kopf schrubben – ergaben der schnell besorgte Nissenkamm sowie das ölige Shampoo dazu nur schwarzen Sand im Haar. Trotzdem bestand die Kita auf Quarantäne für quietschfidele Kinder und die schriftliche Bestätigung der Eltern mitsamt Protokoll aus dem Apothekenprodukt, dass alles ordnungsgemäß durchgeführt wurde.«
Na, da freue ich mich doch schon jetzt darauf. Mit Kindern wird es eben nie langweilig.
Herzlich,
Ihr
Philipp Löwe
Leuchtende Laternen mit Motiven des heiligen Martin: Hartherzigkeit beginnt im Wegschauen – Nächstenliebe im Stehenbleiben
Foto: Fotostand / Wassmuth / IMAGOLinseneintopf: Hier zählen hauptsächlich die inneren Werte, nicht der große Auftritt
Foto: Andrea Thode