Lando Norris hatte Tränen in den Augen, er giggelte und juchzte, vergrub das Gesicht in den Händen. Es war 2019, der damalige Formel-1-Neuling saß mit weiteren Fahrern in der Fia-Pressekonferenz, einer gewöhnlich eher formellen Veranstaltung: Journalisten werden aufgerufen und stellen ihre Fragen, die Atmosphäre ist ruhig, denn es wird live aufgezeichnet.
Doch in Silverstone konnte der Teenager Norris einen Lachanfall nicht unterdrücken, ausgelöst haben soll diesen ein Witz Daniel Ricciardos über Schamhaare. Pennälerhumor eben, doch das Video von Norris und seiner charakteristischen Lache machte den Rookie auch außerhalb des Motorsports bekannt.
Die Formel 1 führt die Szene bis heute in den Top drei der lustigsten Pressekonferenzen . Das Image des Klassenclowns war geboren.
Sechs Jahre später ist Lando Norris Formel-1-Weltmeister. In Abu Dhabi hatte der 26-Jährige wieder Tränen in den Augen, ergriffen und überwältigt von seinem Triumph. Im letzten Saisonrennen setzte er sich in einem Dreikampf gegen den amtierenden Weltmeister Max Verstappen und seinen Teamkollegen Oscar Piastri durch. Es ist eine Leistung, die ihm so mancher Kritiker nicht zugetraut hätte. Vor allem in diesem Sommer nicht mehr.
Dabei war dem Teenager eine goldene Zukunft prognostiziert, als er in die Formel 1 kam. Mit 14 Jahren löste er Lewis Hamilton als den bis dahin jüngsten Kart-Weltmeister ab. Der Brite gewann die Nachwuchsklassen Formel 4 und 3 jeweils im ersten Versuch, in der Formel 2 wurde er auf Anhieb Vizemeister. So etwas weckt Begehrlichkeiten.
»Er hat so ziemlich in jedem Auto, in das er sich gesetzt hat, direkt gewonnen«, sagt McLaren-CEO Zak Brown über den damaligen Nachwuchsfahrer des britischen Traditionsrennstalls.
Damit gehörte Norris zu jener kleinen Auswahl an Fahrern, die schon früh als »kommender Champion«, »Ausnahmetalent« oder »Wunderkind« gelabelt wurden.
Vom Wunderkind zu »Lando NoWins«
Doch im Gegensatz zu Hamilton, der in seiner Debütsaison mit der Vizemeisterschaft (ebenfalls im McLaren) gleich ein Ausrufezeichen setzte, musste Norris auf seinen ersten Sieg in der Königsklasse des Motorsports lange warten. Sehr lange sogar.
Erst in seinem 110. Rennen, im vergangenen Jahr in Miami, gelang ihm der Erfolg.
Der McLaren war zuvor kein Spitzenauto gewesen, Norris erlebte die Verballhornung seines Namens in »Lando NoWins«, die er später selbstironisch auf Merchandise-Artikeln aufgriff.
Die ständige Frage: Bin ich gut genug?
Der Kampf um Anerkennung, er zieht sich durch die Formel-1-Karriere des Briten, trotz seiner Schnelligkeit, trotz seines Talents. Oder gerade deswegen.
Denn Norris unterscheidet sich in einem weiteren Punkt von Rekordchampion Hamilton, als dessen Nachfolger er in Großbritannien schon gehandelt worden war.
Der in Bristol geborene Norris, der auch die belgische Staatsbürgerschaft hat, kommt aus einem wohlhabenden Elternhaus. Das Vermögen seines Vaters wird auf rund 200 Millionen Pfund geschätzt. Mit 36 verließ Adam Norris die Firma, für die er damals arbeitete, und widmete sich der Karriere seines Sohnes.
Zwar legte Lando Norris Wert auf die Feststellung, dass er sich von seinem Vater lediglich die Nachwuchsklassen habe bezahlen lassen. Doch eine Aufsteigerkarriere wie jene Hamiltons, der als einer der wenigen Piloten aus bescheidenen finanziellen Verhältnissen stammt und dazu noch als erster schwarzer Formel-1-Fahrer die Rennserie aufmischte, konnte Norris nicht vorweisen. Die »Süddeutsche Zeitung« beschrieb ihn als den »talentiertesten Rennfahrer schwerreicher Eltern in der Formel 1«.
Dazu kam: Norris bricht mit dem traditionellen Männlichkeitsbild in der Machowelt Motorsport, die gefährlich ist und voller Adrenalin und in der man die eigenen Schwächen dem Gegner nicht auf dem Silbertablett serviert.
Anders Norris. Er spricht offen über den Druck im Leistungssport, verriet, dass er besonders in seiner Debütsaison mit Selbstkritik und Selbstzweifeln haderte und dass er vor den Rennen vor Nervosität kaum essen könne.
Es ist die ernste Seite des vermeintlichen Spaßvogels.
Die Folgen waren erwartbar: Während der Brite sich durch seine Verletzlichkeit neue Fangruppen erschloss (vor allem weibliche und jüngere Anhänger, wie das Magazin GQ berichtete) und man sich die Frage stellen konnte, ob das Thema mentale Gesundheit die Zeit von Rockstars und Playboys in der Formel 1, personifiziert etwa von James Hunt in den Siebzigerjahren, ein für alle Mal beendet hatte, nutzte die Konkurrenz Norris’ Offenheit zum Angriff.
»Nicht der Stärkste im Kopf«
Rückblick in den Sommer 2024: Es ist Juli in Spielberg, Norris hat in dieser Saison endlich ein titelfähiges Auto, mehr noch, der McLaren ist der stärkste Bolide im Feld. Doch um Weltmeister zu werden, muss er an Vierfachchampion Max Verstappen vorbei. Doch das ist nicht einfach, und Norris steckt zum ersten Mal im Titelkampf.
Auf der Heimrennstrecke von Red Bull duellieren sich Norris und Verstappen schließlich kurz vor Schluss, kollidieren, der Reifen des McLaren zergeht in Fetzen. Norris muss abstellen, Verstappen schleppt sich als Fünfter ins Ziel, baut seinen WM-Vorsprung auf 81 Punkte aus.
In Erinnerung bleibt ein aufgelöster Norris , der vor den TV-Kameras beinahe menschlich enttäuscht über das Verhalten seines Kumpels wirkt.
Nur wenige Wochen später hatte Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko im Interview mit »oe24.at « gesagt, dass Verstappen wieder die WM gewinnen werde, weil der Niederländer mental und fahrerisch der Beste sei. Marko hatte dann mit Blick auf den WM-Verfolger hinzugefügt: »Norris hat eine Startschwäche, außerdem ist er nicht der Stärkste im Kopf.«
Zwar kritisierte McLaren-Boss Brown Marko scharf, dessen Kommentare über Norris’ mentale Verfassung den Sport um »zehn bis 20 Jahre« zurückwerfen würden.
Allerdings war Marko nicht der Einzige, dem Norris’ Fehleranfälligkeit auffiel. So verschenkte dieser bei mehreren Starts Positionen und tat sich beim Überholen schwer. Es reichte dann auch nur zur Vizemeisterschaft. 2025 parkte er sein Auto in Bahrain falsch in der Startbox und kassierte eine Strafe, im Rennen summierten sich weitere Patzer auf. »Das darf einem kommenden Weltmeister nicht passieren«, kommentierte Sky-Experte Ralf Schumacher damals.
Als sich in der aktuellen Saison dann Norris’ Teamkollege Oscar Piastri beinahe geräuschlos zum Titelkandidaten mauserte und Norris sowie Verstappen nach dem Großen Preis der Niederlande um 34 und 104 Punkte distanziert hatte, sprach die internationale Presse bereits von einer WM-Vorentscheidung. Norris war in Zandvoort mit Motorproblemen ausgeschieden, nicht wenige trauten Piastri zu diesem Zeitpunkt eher das Kunststück zu, den Ausnahmefahrer Verstappen vom Thron stoßen zu können.
Der 24-Jährige machte kaum Fehler, gilt als ehrgeizig, abgebrüht und wortkarg. Er ist eine Art Gegenentwurf zu dem emotionalen Norris, der nach den Zweikämpfen mit Verstappen im Vorjahr öffentlich mit der »festgelegten Vorstellung davon, wie ein Champion gestrickt sein muss« haderte.
Er wolle sich nicht »wie ein Arschloch« benehmen, nur damit die Leute glaubten, dass er den notwendigen »Killerinstinkt« hätte, den ein Weltmeister vermeintlich benötige, sagte Norris. Gleichwohl: Den »Killerinstinkt« schrieb man eher Piastri zu – und Verstappen sowieso.
Und Norris? Zu weich, zu unentschlossen, zu unernst, zu fragil unter Druck?
»Ich mache mir viel aus dem, was die Leute denken und wie ich in den Medien dargestellt werde«, sagte Norris Anfang November in São Paulo, »vielleicht zu viel. Aber ich habe gelernt, besser damit umzugehen.«
Es waren keine leeren Worte. Der 25-Jährige hatte in Brasilien gerade seinen zweiten Sieg in Folge eingefahren und aus seinem deutlichen Rückstand nach der Sommerpause 24 Punkte Vorsprung auf Piastri und 49 auf Verstappen gemacht – während sich bei seinem Teamkollegen plötzlich Fehler und Anfälligkeiten häuften.
Seinen Kritikern hatte Norris in der zweiten Saisonhälfte eine Antwort gegeben.
Der Kampf geht weiter
Das Ringen um Anerkennung war für Norris aber nicht vorbei. Das liegt erstens an Verstappen. Der Niederländer, einst als »Bad Boy« verschrien, hat sich längst in die Herzen vieler Fans gefahren. Der Red-Bull-Pilot gab trotz des schwächelnden Autos und des enormen Rückstands im Sommer nicht auf, beinahe wäre ihm eine der größten Aufholjagden im Motorsport gelungen. Lediglich zwei Punkte trennten die beiden nach dem Finale in Abu Dhabi.
In São Paulo, wo er sich schon 2024 im Regen ein Denkmal gesetzt hatte, fuhr Verstappen aus der Boxengasse noch auf Platz drei vor. Bei der Siegerehrung wurde er bejubelt, »Verstappen fuhr wie ein Gott!«, attestierte sogar die »Daily Mail« aus Norris’ englischer Heimat. Der stand trotz seiner tadellosen Fahrt im Schatten von Verstappen – und wurde auf dem Podest auch noch ausgebuht.
Im November stichelte Verstappen dann selbst in Richtung der Konkurrenz. »Hätten wir ein ebenso dominantes Auto gehabt wie McLaren, dann wäre die Meisterschaft längst entschieden«, spekulierte der Niederländer – und dürfte damit ausgesprochen haben, was viele seiner Anhänger auch denken.
Aber auch der Rennstall McLaren trug Anteil an den Restzweifeln. Das Team aus Woking hatte sich entschieden, keinen Nummer-eins-Fahrer zu bestimmen, um es sich mit keinem seiner beiden Talente zu verscherzen. Kein Teamkollege muss sich in den Dienst des anderen stellen. Eine riskante Strategie, besonders in der finalen Phase einer WM, mit einem Verfolger wie Verstappen.
Stattdessen gab man die »Papayaregeln« aus, der Name ist angelehnt an die Wagenfarbe. Wesentlicher Bestandteil ist, die beiden Piloten frei fahren zu lassen; Piastri und Norris sollen nur darauf achten, sich nicht von der Strecke zu kegeln.
Doch das klappte mitunter nicht. In Kanada fuhr Norris Piastri im Duell um Platz vier ohne Not ins Auto und schied aus. In Singapur stand die Feier über den vorzeitigen Gewinn des Konstrukteurstitels im Zeichen der Missstimmung zwischen beiden Fahrern. Norris hatte Piastri in der Startphase nach einer Berührung mit Verstappen angerempelt. »Sind wir also cool damit, dass Lando mich einfach rausdrückt?«, funkte Piastri.
»Dann gab es dieses Bild von Rennfahrern, die Maschinen sind«
Für ihn ging nach Monza wenig zusammen, der Australier sah das Podest wochenlang nur aus der Ferne. In Monza hatte er seinen Platz an Norris zurückgeben müssen, weil er durch einen langsamen Pitstop hinter ihn gefallen war. Piastri fügte sich, teilte seine Meinung aber mit: »Was kann ich für den schlechten Boxenstopp?«, fragte er.
Fans begannen, die Szenen miteinander zu vergleichen. Wurden beide Fahrer wirklich gleich behandelt? Anhänger des Australiers spekulierten im Anschluss gar über eine Benachteiligung ihres Idols zugunsten von Norris.
Man könne »nie hundertprozentig fair zu beiden Fahrern sein«, räumte McLaren-Teamchef Andrea Stella nach dem Singapur-Rennen ein.
Norris kann das jetzt egal sein, er hat sich durchgesetzt und Ausnahmefahrer Verstappen entthront. Als dieser seinen Rückstand nach Siegen in Las Vegas durch die Disqualifikation beider McLaren und in Katar nach einem Strategiepatzer des britischen Teams auf 12 Punkte verkürzte, hielt Norris dem Druck, hausgemacht durch sein eigenes Team, stand.
Beim Saisonfinale fuhr er nun den notwendigen dritten Platz undramatisch ins Ziel. Und auch die britische Presse zollte Tribut. »Mutig« und »nervenstark« nannte etwa der »Guardian« Norris’ Fahrt, es sind Attribute, die er lange nicht über sich zu lesen bekommen hat.
Schon wenige Tage zuvor, im Rahmen des Großen Preises von Katar, hatte sich Vierfachweltmeister Sebastian Vettel beeindruckt von Norris gezeigt, weil der Brite sich traue, Schwäche zu zeigen. In der Formel 1, sagte Vettel, sei das lange ein Tabu gewesen. »Niemand hat darüber gesprochen, und dann gab es dieses Bild von Rennfahrern, die Maschinen sind, die präzise arbeiten und keine Schwächen zeigen. Ich denke, das ist alles Blödsinn, wir sind alle Menschen«, sagte der Deutsche.
Norris sei für ihn ein Vorbild über die Formel 1 hinaus.
Lando Norris: »Ich dachte, ich würde nicht weinen, aber ich musste«
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Gekicher in der Pressekonferenz: Formel-1-Rookie Lando Norris zwischen Lewis Hamilton und George Russell
Foto: Hoch Zwei / IMAGODer Brite debütierte 2019 mit McLaren in der Königsklasse und fährt seither für das Traditionsteam aus Woking
Foto: Jeenah Moon / REUTERS2025 dann der Triumph: Nachdem man lange kein Spitzenauto hatte, feiert McLaren in Abu Dhabi den Fahrertitel – den ersten seit Lewis Hamiltons Erfolg 2008
Foto: Zsombor Tóth / Zsombor Toth / IMAGODas Duell zwischen Max Verstappen und Lando Norris nahm im Sommer 2024 Fahrt auf …
Foto:Christian Bruna / AP
... und dann ist da ja noch der Teamkollege! Oscar Piastri dominierte führte die WM in seiner erst dritten Formel-1-Saison lange an
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