Katherina Reiche freut sich über einen Lückentext

Nehmen wir mal an, Sie planen, sich im kommenden Jahr ein neues E-Auto zuzulegen. Würden Sie Testberichte über E-Autos lesen, die bis Ende 2023 auf den Markt gekommen sind, und keine neueren? Vermutlich nicht, denn ein Auto ist eine längerfristige Investition, die Entwicklung gerade in diesem Bereich extrem dynamisch.

Deutschland steht als Land gerade vor ungleich größeren Investitionen als denen in ein neues Auto. Wir brauchen ein modernes Energiesystem: für eine elektrifizierte Zukunft, für Rechenzentren und so weiter.

Autos haben mit dem Thema Stromversorgung einiges gemeinsam, denn auch letztere muss mittelfristig CO₂-neutral werden, und in beiden Fällen sind die technischen Fortschritte enorm. Batteriespeicher werden so schnell billiger  und besser, dass E-Autos billiger werden – und eine große Zahl von Unternehmen gern Großbatterien ans Netz anschließen möchte. Auf eigene Rechnung, ohne Subventionen. Im Moment hat man in der Branche aber das Gefühl, diese Entwicklung werde sabotiert.

Gewaltiges Wachstum vollständig ausgeblendet

Das Bundeswirtschaftsministerium hat gerade einen Bericht der Bundesnetzagentur veröffentlicht, den »Versorgungssicherheitsbericht« , der den zukünftigen Strombedarf modelliert. Der Bericht erscheint erstaunlich spät, denn die Frist zur Abgabe beim Ministerium verstrich schon Ende Oktober 2024.

Seitdem lag der Bericht offenbar herum, zuerst unter Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), dann unter Katherina Reiche (CDU). Jetzt wurde er veröffentlicht, und die Bundesnetzagentur teilt auf Anfrage mit: »Dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie obliegt es, zu diesem Bericht Einvernehmen in der Bundesregierung herzustellen. Im Zuge dieser Abstimmung haben sich Formulierungsänderungen und Korrekturen ergeben, die in dem veröffentlichten Bericht Eingang fanden.«

Der nun publizierte Bericht mit »Formulierungsänderungen und Korrekturen« aus der Bundesregierung weist einen eklatanten Mangel auf, was die Autoren sogar selbst eingestehen: Batteriespeicher spielen darin eine winzige Nebenrolle. Zitat: »Schon heute können sich insbesondere Batteriespeicher im Strommarkt refinanzieren, wie die aktuelle beobachtbare Ausbaudynamik beweist. Diese nach dem Start der Untersuchung (Beginn des Jahres 2024) beobachtete Dynamik konnte in der vorliegenden Modellierung nicht umfassend abgebildet werden.« »Nicht umfassend« ist hier höflich für »gar nicht«.

Einfach gar kein Wachstum angenommen

Das im Bericht verwendete Modell geht für das Jahr 2035 von der gleichen oder sogar einer niedrigeren Batteriespeicherleistung aus als im September 2025. Wachstum lässt sich in der Projektion nur für bidirektionales Laden erkennen, also für als Netzspeicher genutzte Elektroautos. Das schmale Scheibchen für den Bereich »Stationäre Batteriespeichersysteme« dagegen ist in der Balkengrafik der Projektion für 2035 etwa ein bis zwei Gigawatt dünn, so wie jetzt im Moment.

Batteriespeicher wachsen in der Projektion schlicht gar nicht – sie schrumpfen laut Modell sogar: In der Bildunterschrift zur Projektion der Speicherentwicklung steht, dass »im Modell keine zusätzlichen stationären Batteriespeichersysteme benötigt werden bzw. ein Teil davon modellendogen stillgelegt wird«. In einer Fußnote ist dann etwas schamhaft vermerkt, dass das Gegenteil stimmt: »Aktuell zeichnet sich in der Realität ein voranschreitender Zubau von stationären Batteriespeichersystemen ab.« Mit anderen Worten: Das Modell prognostiziert etwas, das schon jetzt erkennbar falsch ist.

Das Modell taugt nichts

Die Agentur verweist auf Anfrage auf diese Sätze aus dem Bericht: »Die steuerbaren Kapazitäten setzen sich zum Großteil aus Kraftwerken, insbesondere Gaskraftwerken, zusammen. Speicher und Industrieflexibilitäten machen zwischen einem Viertel und einem Drittel der installierten Leistung aus.« Da seien Speicher doch erwähnt, so die Agentur, und die projizierte Nichtentwicklung bei den Batteriespeichern sei »keine Fortschreibung«, sondern »Teil des Modellergebnisses«. Das heißt dann allerdings, dass das Modell nichts taugt.

Das zeigt schon die aktuelle Entwicklung: Die an das Netz angeschlossene Großspeicherkapazität hat sich, legt man Zahlen der Plattform »Battery Charts« der RWTH Aachen zugrunde, seit Anfang 2024 fast verdoppelt, von 1,51 auf 2,91 Gigawattstunden. Das Wachstum könnte noch schneller gehen, aber dazu gleich. Noch schneller wachsen weiterhin Heimspeicher, und auch viele Unternehmen  legen sich mittlerweile eigene Großbatterien zu. Ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht.

Billigerer Strom, und zwar schnell

Solche Batteriespeicher sind extrem nützlich, lukrativ und deshalb gerade bei Investoren sehr populär. Damit kann man günstigen erneuerbaren Strom dann speichern, wenn es ihn im Überfluss gibt, und ihn wieder verkaufen, wenn die Preise steigen. Strom lässt sich auf diese Weise handeln wie Weizen oder tiefgefrorene Schweinehälften. Die Großbatterie entspricht dann einem Silo oder Kühlhaus.

Gleichzeitig aber können solche Großspeicher, wenn sie »netzdienlich« gefahren werden, wie das in der Branche heißt, das Stromnetz entlasten und den Strom billiger machen.

Wie das gehen könnte, haben der Energieökonom Lion Hirth, Professor an der Hertie School, und seine Kollegen gerade in einer Auftragsstudie für einen Großspeicherbetreiber  ausgerechnet: Schon heute entlasten Speicher demnach das Netz, aber man könnte diesen Effekt, mit der richtigen Regulierung, noch beträchtlich steigern. Das spart Geld bei den sogenannten Redispatch-Kosten, die zu den bekanntlich recht hohen deutschen Netzentgelten beitragen.

Kurz: Batteriespeicher machen den Strom billiger, wenn man es richtig anstellt, und zwar schnell. Nicht zuletzt deshalb wächst weltweit keine andere Energietechnologie derzeit so schnell .

Technik und Geld sind da, der Wille fehlt

Im Moment liegen bei den deutschen Netzbetreibern Anschlussbegehren für Großbatterien mit einer Gesamtleistung von etwa 500 Gigawatt vor (zur Erinnerung: Das Scheibchen im Bericht der Bundesnetzagentur ist für 2035 ein bis zwei Gigawatt dünn). Das hat das Fachportal »Regelleistung Online«  aus öffentlich verfügbaren Berichten zusammengerechnet. Zum Vergleich: Die benötigte Spitzenlast im deutschen Stromnetz liegt derzeit bei etwa 75 Gigawatt.

Die 500 Gigawatt Speicherleistung werden mit Sicherheit nicht alle gebaut – aber auch sicher nicht gar keine Speicher, wie im Modell der Agentur.

Im Moment, erzählen Brancheninsider, ist es aufgrund von schleppenden Genehmigungsprozessen extrem schwer, weitere Anschlussgenehmigungen zu bekommen. Es gibt einen komplizierten Dschungel aus Regelungen, Pflichten und Zuständigkeiten. Und viele Netzbetreiber sind mit den vielen Anschlussbegehren heillos überfordert.

Es sind zweifellos auch einige windige Investoren unterwegs, die Projekte anstoßen, die sie gar nicht umsetzen können. All das ließe sich regeln, mit bundesweiten Standards und klaren Vergabekriterien etwa. Doch das muss man politisch wollen. Und dieser Wille scheint derzeit zu fehlen. Stattdessen gibt es weltfremde Prognosen.

Jeder liest darin, was er will

Als der Versorgungssicherheitsbericht mit der eklatanten Lücke diese Woche veröffentlicht wurde, las darin offenbar jeder, was er oder sie gern darin lesen wollte. Die einen »mehr erneuerbare Energien!«, die anderen  »mehr Gaskraftwerke!«, wieder andere diagnostizierten vor allem  ein »Digitalisierungs- und Flexibilitätsproblem«.

Die eklatante Lücke hinsichtlich der am schnellsten wachsenden Energietechnologie des Planeten thematisierte dagegen kaum ein Verband. Allein der Bundesverband Solarwirtschaft bemängelte, immer noch recht diplomatisch, »dass die Potenziale von Batteriegroßspeichern unzureichend modelliert wurden und an der realen Entwicklung vorbeigehen«.

Die Energie-Nerds sind schockiert

Bei LinkedIn dagegen schlugen die Wogen hoch. Energie-Nerds und -fachleute zeigten sich entsetzt, dass ein derart realitätsferner Bericht überhaupt veröffentlicht werden konnte.

Völlig klar war die Botschaft des Berichts dagegen für Wirtschaftsministerin Katherina Reiche. Deren große Liebe zum Gas war hier vor zwei Wochen schon einmal Thema , und Reiche blieb sich treu: Der Bericht zeige, dass wir »neue steuerbare Kapazitäten, insbesondere neue Gaskraftwerke, zubauen müssen«, so das Ministerium. Reiches Aufgabe wäre es, Strukturen und Regeln so zu verändern, dass Speicher schnell – immer mit ausschließlich privatem Kapital! – gebaut und netzdienlich betrieben werden. Doch sie will augenscheinlich vor allem Gaskraftwerke bauen. Das wird für uns alle teurer.

Es gibt keine großlastfähige Stromquelle, die so »steuerbar« ist wie ein Großspeicher. Mehr Flexibilität als Batterien bietet keine andere Technologie, auch kein Gaskraftwerk. In Kalifornien kann man sich das längst ansehen. Dort ersetzen zur Mittagszeit mit erneuerbarem Strom vollgelaufene Großspeicher schon heute in den Abendstunden gewaltige Anteile der bisher mit Gas erzeugten Stromversorgung .

Wenn das Wirtschaftsministerium Entscheidungen auf Basis von Modellen trifft, die enorme Marktumwälzungen vollständig ausblenden, kann das nicht gut gehen.

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