Im Sommer 1812 marschierte der französische General Napoleon Bonaparte (1769–1821) mit einer Armee von etwa 500.000 bis 600.000 Soldaten Richtung Russland. Doch von dieser gewaltigen Streitmacht kehrten nur einige Zehntausend zurück. Der Feldzug schwächte Frankreichs militärische und politische Macht entscheidend und leitete den Niedergang von Napoleons Herrschaft ein.
Seit mehr als 200 Jahren streiten Historiker darüber, was das Massensterben auslöste. Die klassische Erklärung: Hunger, eisige Kälte – und vor allem Typhus, eine durch Läuse übertragene Infektionskrankheit, die damals in den Armeen wütete.
Doch eine neue Studie, veröffentlicht im Fachjournal »Current Biology« , stellt diese Annahme infrage. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Nicolás Rascovan vom Institut Pasteur hat mithilfe moderner Methoden Erbinformationen (DNA) aus den Zähnen von 13 Soldaten analysiert, die bei dem Rückzug aus Russland in einem Massengrab in Vilnius, Litauen, bestattet wurden. Zähne sind eine Art Zeitkapseln für Krankheiten. Auf diese Weise wollte die Gruppe klären, welche Krankheitserreger wirklich für das Massensterben verantwortlich waren.
Tödliche Erreger
Zunächst entnahmen die Forscher die DNA aus den Zähnen und bestimmten deren genaue Abfolge. Auch entfernten sie alle Verunreinigungen, die aus der Umwelt stammen könnten. Dann suchten sie in den DNA-Abschnitten gezielt nach bekannten Krankheitserregern, die für Menschen gefährlich sind. Überraschenderweise fanden sie keinerlei Hinweise auf den klassischen Typhus-Erreger Rickettsia prowazekii oder auf Bartonella quintana, den Erreger des sogenannten Grabenfiebers.
Forschende hatten in früheren Studien mit älteren Analysemethoden noch Spuren dieser Bakterien gefunden. Doch diese waren offenbar nicht so zuverlässig wie die heutigen Technologien, die auch stark fragmentierte, alte DNA erfassen können.
Stattdessen stießen die Wissenschaftler auf zwei andere Bakterien: erstens Salmonella enterica (Serovar Paratyphi C), der Erreger des Paratyphus. Typhus und Paratyphus sind zwei verwandte, aber unterschiedliche Krankheiten, da jeweils verschiedene Erreger dafür verantwortlich sind. Beide verlaufen ähnlich und werden meist durch verunreinigtes Wasser oder Lebensmittel übertragen, aber Paratyphus ist in der Regel etwas milder als Typhus.
Zweitens Borrelia recurrentis, das Bakterium, das Rückfallfieber auslöst. Diese Krankheit wird, wie Typhus, durch Kleiderläuse übertragen und führt zu wiederkehrenden Fieberschüben. Vier der 13 untersuchten Soldaten zeigten eindeutige Spuren von Salmonella enterica, zwei enthielten DNA von Borrelia recurrentis.
Die Forscher konnten die Erreger durch verschiedene Schritte eindeutig authentifizieren: Sie prüften, ob die DNA-Fragmente tatsächlich von den gesuchten Bakterien stammen und ob deren Verteilung im Genom zu echten Infektionen passt. So konnten sie ausschließen, dass die Spuren zufällig aus der Erde oder von anderen Verunreinigungen stammten.
»Es ist sehr aufregend, mit einer heutigen Technologie etwas nachweisen und diagnostizieren zu können, das 200 Jahre lang begraben war«, sagt Rascovan in einer Pressemitteilung zur Studie.
Historische Symptome passen zu den Funden
Spannend ist, dass die Symptome, die von Zeitzeugen und Ärzten der Armee beschrieben wurden – Fieber, Durchfall, Schwäche, Erschöpfung – gut zu Paratyphus und Rückfallfieber passen. In einem Bericht eines Arztes aus dem Jahr 1812 wird explizit erwähnt, dass viele Soldaten in Vilnius an Durchfall litten, nachdem sie große Mengen eingelegter Rüben gegessen hatten – ein typisches Ansteckungsrisiko für Paratyphus.
Die Autoren der Studie betonen aber, dass die untersuchte Gruppe mit 13 Soldaten nur einen kleinen Teil der mehr als 3000 Toten im Massengrab darstellt. Es ist also möglich, dass auch andere Krankheiten – darunter Typhus – den anderen Soldaten zugesetzt haben. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass vermutlich eine Kombination aus verschiedenen Infektionen, Hunger, Kälte und Erschöpfung zum Kollaps der Armee führte.
Alte Bakterienlinie entdeckt
Ein weiteres spannendes Detail: Das gefundene Rückfallfieber-Bakterium gehört zu einer Linie, die schon vor 2000 Jahren im heutigen Großbritannien nachgewiesen wurde. Diese Linie scheint über Jahrhunderte in Europa überlebt zu haben, ist aber heute verschwunden. Das zeigt, wie sich Krankheitserreger im Laufe der Geschichte verändern und manchmal komplett verschwinden können.
Napoleon veränderte Europa politisch und gesellschaftlich. Im Jahr 1804 krönte er sich selbst zum »Kaiser der Franzosen«. Seine Feldzüge und Reformen prägen bis heute das Bild der Zeit um 1800 – und machen ihn zu einer der berühmtesten Persönlichkeiten der Weltgeschichte.
Schädel eines Soldaten aus Napoleons Armee neben einem Knopf von der Uniform eines Soldaten
Foto: Michel Signoli / Aix-Marseille Université