»Mama, du zu Hause bleiben, bitte!«

Wissen Sie, wofür ich dankbar bin? Dass ich kein Dankbarkeitstagebuch führen muss. Ich hab’s nicht so mit Coaching-Übungen. Aber ich habe ja Sie.

Anders gesagt: Wäre ich nicht an der Reihe gewesen mit dem Familiennewsletter, hätte ich nicht darüber nachgedacht, was in unserem Leben Nennenswertes passiert ist. Und wäre nicht auf die Idee gekommen, mir dieses Gefühl heute einmal näher anzuschauen: das Gefühl, dankbar zu sein für das Nichterwähnenswerte. Zu sehr war ich innerlich im Turbomodus.

Es begann damit, dass mein Mann und meine Tochter ein paar Tage zu den Großeltern gefahren sind. Mama allein zu Haus. Für diese Aussicht war ich schon Wochen im Voraus dankbar. Bis zum Abreisemorgen. Da überkam mich ein Anfall vorausschauender Sehnsucht, und so dachte ich laut darüber nach mitzukommen. Meine Tochter mit Downsyndrom sagte: »Mama, du zu Hause bleiben, bitte.« Aha. Ich habe schon schönere Momente als Mutter erlebt, aber ich verstehe, dass es einen gewissen Zauber für sie hat, nur mit Papa unterwegs zu sein. Nicht das Kind auf der Rückbank zu sein, sondern Teil eines Zweierteams.

Ich erinnerte mich also an dieses unbändige Gefühl von Freiheit, das ich mir von meinen kinderfreien Tagen versprochen hatte, setzte mich aufs E-Bike und brauste 50, 60 Kilometer durch die Hügellandschaft. Im Turbomodus. »Nimm das Ladegerät mit und setz eine Brille auf – wegen der Fliegen«, hatte mein Mann noch gesagt.

Doch im Restaurant war ich zu verträumt, um eine Steckdose zu suchen: Endlich einen Sauerbraten essen ohne Kung-Fu am Tisch – »Hier, die Serviette!« Zack! »Warte, ich schneid’s dir!« Zack! Am Ende fuhr ich gegen den sich leerenden Akku und die einbrechende Dunkelheit an. Die letzten Kilometer bewältigte ich blinzelnd, wegen der Fliegen in den Augen, und keuchend. Nahm letztlich den Bus. In die falsche Richtung. Und fand es super. Musste ja nur noch mich selbst ins Bett bringen, später.

Am zweiten Tag war mein Körper dankbar, nicht auf einem Sattel sitzen zu müssen, und mein Geist genoss die Stille im Wohnzimmer. Keine hustenden Regenwürmer aus dem Lautsprecher, kein Schni-Schna-Schnappi. Ich überlegte, einkaufen zu gehen und ließ es bleiben. Ich überlegte zu kochen und ließ es bleiben. Und fand es super. Ganzheitliche Regenwurmdiät.

Am dritten Tag buchte ich spontan eine Nacht in einem Wellnesshotel, und im Ruhebereich ruhend durchströmte mich eben jenes Gefühl, von dem ich anfangs schrieb. Über Stunden hatte ich mir Fotos von uns dreien angeschaut: unsere Tochter jubelnd beim Bowling mit den Klassenkameraden, der Stoffaffe, der sich ans Lenkrad klammert auf dem Schulweg, der Kinderfinger, der auf das Lieblingseis am Schwimmbadkiosk zeigt, das Video, wie die beiden mir albern tanzend meinen morgendlichen Kaffee bringen. So viel Leben, zusammengesetzt aus nicht erzählenswerten Einzelteilen.

SMS an meinen Mann: »Ihr fehlt mir (ein bisschen).« Er: »Du fehlst uns auch (ein kleines bisschen).«

Am letzten Abend vor der Heimkehr telefonierte ich noch einmal mit meinem Zweierteam und erfuhr, was in den Tagen ohne mich geschehen war: Unsere Tochter mit Downsyndrom war zum ersten Mal Fahrrad gefahren. So richtig. Ohne dass jemand neben ihr her joggte. Seite an Seite mit ihrem radelnden Papa, eine Viertelstunde lang.

Das ist wirklich erzählenswert. Weil wir jahrelang auf diesen Tag gewartet haben und nicht sicher waren, ob er jemals kommen wird. Meine Tochter hat sich dann gleich zu einer Fahrradtour verabredet. Nur wir beide, sagte sie. »Papa vielleicht oben arbeiten.«

An welche Einzelteile des Lebens erinnern Sie sich gern? Welche kleinen Szenen, welche Rituale machen für Sie Familienleben aus? Schreiben Sie mir gern an familiennewsletter@.de 

Meine Lesetipps

Da ich gerade über das Vermissen geschrieben habe: Ich habe in den Tagen, als meine Familie unterwegs war, wieder meinen eigenen Kaffee getrunken. Und er hat – wie immer – nicht geschmeckt. Genauer gesagt: Es war eine fürchterliche Plörre. Dabei waren die Zutaten dieselben, die auch mein Mann benutzt, wenn er mir das dampfende schwarze Getränk in meiner speziellen Kaffeetasse bringt.

Vermutlich liegt die Erklärung in diesem Text, den ich sehr gern gelesen habe: »Ich koche für Tina. Das ist meine Art, zu sagen: Ich liebe dich.«  Dort stehen zum Beispiel folgende Zeilen: »Wir lernen mit der Zeit, unsere Love Languages individuell auf den Partner abzustimmen, bis wir uns so mühelos verstehen, als wären wir füreinander geschaffen. Äußerlich voller Risse und Kanten, innerlich verhutzelt und eigen, passen wir dann dennoch perfekt zusammen, denn: Wir füllen die Freiräume zwischen uns mit Risotto.«

(Anmerkung meines Mannes, als er diesen Absatz las: »Ich kann aber mehr als Kaffee kochen.« Stimmt!)

Bleiben wir noch kurz bei der Liebe. (Denn ich warte gerade auf meinen Kaffee. Währenddessen wirft meine Tochter einen Korb nach dem anderen im Wohnzimmer, wo der Basketballständer gegenüber dem Sofa steht. Und singt lautstark mit: »Piraten, ohe, wir stechen in See«. Wir sind gemeinsam seit fünf Uhr wach. Ich lese mir gleich selbst noch einmal meinen Newsletter vor, zur Stärkung.)

Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster benennt vier wesentliche Punkte, die die Entwicklung eines Kindes beeinflussen: »Bin ich sicher? Bin ich wertvoll? Bin ich verbunden mit anderen? Bin ich wirksam?« Er sagt: »Welches Vertrauen ein Kind entwickeln kann, hängt davon ab, wie gut seine Umwelt diese Fragen beantwortet. Je bindungsloser und widriger eine Kindheit ist, desto schlechter sind häufig die Antworten.« Lesen Sie das ganze Gespräch hier: »Kinder rechnen nicht mit perfekten Eltern« .

Welche Tücken und Lücken unser Bildungssystem hat, darüber kann die Inklusionsforscherin Vera Moser  viel erzählen. Denn es gibt eine Entwicklung, die nachdenklich macht: Immer mehr Schülerinnen und Schülern wird sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert. Moser kritisiert nicht nur die Verfahren, wie die Diagnosen zustande kommen, und welche negativen Effekte sich aus dem »Förderstatus« ergeben können. Sie beschreibt auch ein anderes Dilemma: »Viele Eltern wünschen sich häufig für ihr Kind eine inklusive Beschulung, sie sehen jedoch, dass viele Regelschulen dafür nicht gut aufgestellt sind. Und diese wiederum fühlen sich nicht verpflichtet, ihre Schule und den Unterricht inklusiv zu gestalten, also auf Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auszurichten, weil es ja den Plan B der Förderbeschulung gibt.«

Zum Schluss möchte ich Sie noch auf diesen Artikel aufmerksam machen: »Unsere Tochter verträgt kein Licht. Wir pflegen sie deshalb in Dunkelheit«.  Meine Kollegin Nina Weber hat mit den Eltern von Milena gesprochen, einer jungen Frau, die ME/CFS hat, für die jedes Geräusch, jeder Reiz, sogar jedes gesprochene Wort eine Belastung darstellt. Sie erklären, was diese chronische Krankheit und damit auch die Pflege so besonders macht – und haben eine Pflegeanleitung für schwer- und schwerstkranke ME/CFS-Betroffene veröffentlicht .

Das jüngste Gericht

… kommt bei mir dieses Mal von der Spitzenköchin Elif Oskan. Es klingt traumhaft leicht und soll traumhaft lecker sein. Fast so, als hätte ich endlich eine Lösung für die Zucchini, die ich regelmäßig kaufe und die dann traurig im Gemüsefach vor sich hin gammeln. Aber probieren Sie es doch selbst, dieses anatolische Gericht: Das Frühstück, das auch am Abend schmeckt .

Mein Moment

Als ich im letzten Newsletter davon erzählte, was mich bei der Erziehung unserer Tochter mit Downsyndrom umtreibt, schrieb mir unsere Leserin Inga T.: »Als Mutter eines zehnjährigen Sohnes im Autismus-Spektrum erlebe ich doch oft ähnliche Situationen zu Hause wie Sie (…)

Dabei ist es so schön, dass Ihre Tochter viele mit ihrer Begeisterung anstecken kann (…) Wir erleben leider oft in der Öffentlichkeit das Gegenteil. Wenn sich mein Sohn im Sportladen auf den Boden schmeißt wie ein dreijähriges Kind … und nicht zu beruhigen ist, weil er nur die Schuhe, nicht aber die Torwarthandschuhe bekommt. Ich daneben, nur bedacht, dass er sich nicht verletzt, schütze auch noch seine kleine Schwester, sehe zu, wie sich ein erwachsener Mann über meinen Sohn beugt und ihn nachäfft. Ein anderer Mann geht vorbei, schüttelt den Kopf und sagt, dass es komisch aussieht, was mein Sohn da veranstaltet.

Natürlich raufe ich dann alle meine verbleibenden Kräfte zusammen, stelle diese Männer zur Rede, stehe für meinen Sohn ein. »Oh, Entschuldigung!« kommt dann manchmal, aber vorher wurde ich als Mutter abgestempelt, die ihren Sohn schlecht erzogen hat. Wie von vielen anderen, die nur zuschauen, ohne zu kommentieren. Warum nickt mir niemand einfühlsam und verständnisvoll zu? Warum hat niemand ein ermutigendes Wort für mich?

Kaum sind wir nach 20 Minuten aus dem Sportgeschäft raus, laufen mir die Tränen vor Anstrengung und Empörung, und mein Sohn schaut mich liebevoll an und fragt: »Warum weinst du denn?«. »Online-Kaufen« und »zu Hause auswählen« ist unsere Lösung (…)

Ich bin auch keine Bilderbuch-Mama, ich bin verzweifelt, bin wütend, werde laut, mache Fehler. Und doch versuche ich jeden Tag aufs Neue, die bestmögliche Mama zu sein, die ich an dem Tag eben sein kann. Und ich wünsche mir mehr Verständnis von der Gesellschaft für unsichtbare Einschränkungen!«

Mich hat dieser Leserbrief berührt. Bis zum nächsten Mal!

Herzlich,
Ihre Sandra Schulz

Ungewöhnliche Schulbegleitung: Affe mit Papa am Steuer

Foto: Privat

Renz-Polster: »Am wichtigsten ist es, dass das Familienklima nicht dauerhaft wüst oder kalt ist, dann kann auch mal eine Regenfront durchziehen«

Foto: Jorge Ponz / Stocksy

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