Seine erste Trophäe als Fußballprofi gewann Yann Sommer vor 17 Jahren. Er wurde 2008 Cupsieger in Liechtenstein mit dem FC Vaduz. Der erste Pokalsieg ist im Leben eines Fußballers etwas Besonderes.
Nichts gegen den liechtensteinischen Fußball, aber die Trophäe, die Yann Sommer mit seinen nun 36 Jahren erringen kann, strahlt dann doch noch etwas mehr. Nach 94 Länderspielen für die Schweiz, nach 540 Pflichtspielen in drei verschiedenen europäischen Ligen steht der Torwart vor seinem größten Erfolg: Am 31. Mai kann Sommer mit Inter Mailand die Champions League gewinnen.
Daran, dass dies möglich ist, hat er selbst größten Anteil.
»Ich könnte nicht glücklicher sein«
Es ist schwer zu sagen, ob dieses phänomenale Halbfinale gegen den FC Barcelona, die vielleicht beste Mannschaft Europas, das Spiel seines Lebens für Yann Sommer war. Aber dass nach solch einem rauschhaften Fußballabend, in dem 22 Akteure sich ihre Seele aus dem Leib gespielt hatten, am Ende ein Torwart zum Man of the Match gekürt wird, passiert selten.
»Ich könnte nicht glücklicher sein«, hat Sommer nach dem Spiel gesagt. Als die 120 Minuten von San Siro abgepfiffen wurden, kamen ihm die Tränen. Dieser Abend hat nicht nur Millionen Fußballfans berührt, auch die Spieler selbst haben offenbar gespürt: Das hier war etwas Besonderes.
Sieben Paraden hat die Statistik für Sommer in dieser Partie ausgewiesen, das könnte man achselzuckend hinnehmen, nun ja, sieben. So viele Paraden wie Tore in diesem Spiel. Aber es ist eher ein Beleg, wie dürr eine Zahl im Fußball sein kann, weil sie nicht aussagt, was wirklich hinter ihr steckt.
Die Parade in der 57. Minute
Eine dieser sieben Paraden war die Szene in der 57. Minute. Barça hatte den perfekten Konter gespielt, eingeleitet durch einen der Geniestreiche von Lamine Yamal. Der Ball landete bei Eric García, der ihn nur noch ins leere Tor hätte schießen müssen. Leeres Tor? Nicht ganz.
García platzierte den Ball etwas zu ungenau, Sommer streckte sich, wie es seine 1,83 Meter Körpergröße irgendwie hergaben und parierte. Alle, wirklich alle hatten den Ball schon im Tor gesehen.
»Ich hatte Glück, dass er ihn in meine Richtung geschossen hat, somit wäre es ein Tor gewesen«, kommentierte Sommer danach. Glück. Man kann es auch eine atemberaubende Rettungsaktion nennen.
In der Verlängerung brachte er seine Fingerspitzen an einen Yamal-Schlenzer heran. Das sah nicht so spektakulär aus, aber war sogar noch die größere Tat. Niemand im Stadion wäre an diesem Abend nur auf die Idee gekommen, diesem Torwart fehlende Körpergröße zu attestieren.
Das war mal anders.
Als Sommer im Januar 2023 nach achteinhalb Jahren als Stammkeeper von Borussia Mönchengladbach zum FC Bayern wechselte, wurde das Thema »Dieser Torwart ist zu klein« zur Begleitmusik. Der nach seinem Beinbruch damals außer Gefecht gesetzte Manuel Neuer ist zehn Zentimeter größer. Diese zehn Zentimeter reichten, um einen mächtigen Schatten auf Sommer zu werfen.
Ein unruhiges halbes Jahr
Den Schatten wurde er in dem halben Jahr in München nicht los. In der Champions League gegen Manchester City schieden die Bayern aus, auch weil Sommer einem verunsichert wirkenden Team keine Stabilität geben konnte.
Es war das chaotische Bayern-Halbjahr, in dem Julian Nagelsmann Knall auf Fall gehen musste, Thomas Tuchel übernahm, Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić den Verein nicht in den Griff bekamen und Manuel Neuer gegen die Entlassung des Torwarttrainers Toni Tapalović wütete. Keine Atmosphäre, in der das Ankommen leicht gemacht wird.
Sommer in München – das blieb letztlich eine Episode, nach 19 Spielen wechselte er nach Italien. Dass er jetzt für das Champions-League-Endspiel in die Arena nach Fröttmaning zurückkehrt, ist eine spezielle Anekdote.
Genauso wie der Umstand, dass Tapalović, der Torwarttrainer, um den es damals so viel Unruhe gab, am Dienstagabend auf der Bank des Gegners saß: als Torwartcoach im Betreuerstab von Hansi Flick und damit auch verantwortlich für die Geschicke von Barcelona-Torwart Marc-André ter Stegen, Sommers Vorgänger bei Borussia Mönchengladbach.
19 Torschüsse abgewehrt
Sommer kommt am letzten Maiabend in das Stadion, in dem er vermutlich das beste Bundesligaspiel seiner Karriere gemacht hatte – allerdings nicht für die Bayern, sondern für Mönchengladbach. 19 Torschüsse parierte er an jenem vierten Spieltag der Saison 2022/2023. Das hatte vorher kein anderer Bundesligatorwart in einem Spiel geschafft. Und der Rekord steht immer noch.
In dieser Partie zeigte Sommer seine überragende Strafraumbeherrschung, seine Reflexe, sein Stellungsspiel. All die Qualitäten, die beweisen: Größe ist nicht alles.
»Die Größe entscheidet am Ende nicht darüber, ob ich eine Flanke abfangen kann«, sagte Sommer einmal dem SPIEGEL. »Wichtiger sind Faktoren wie Mut, eine gute Position, ein gutes Timing, Stabilität in der Luft und natürlich die Sprungkraft.« (Lesen Sie hier das Stück über Sommer und die Debatte über Größe im Tor)
In Gladbach war Sommer ein Publikumsliebling, aber manchmal ließ er die Fans auch den Atem stocken. Sein Torwartspiel mit dem Fuß war riskant, manchmal zu riskant, es gab Fehlpässe der Marke Yann Sommer, die mitunter fatale Folgen hatten.
Es war die Schwäche, an der Sommer in Mailand am meisten gearbeitet hat. An seiner Körpergröße kann Sommer nichts ändern, man kann dennoch an einem Abend über sich hinauswachsen. »Die erste Bewegung nach der Ballannahme, das ist Weltniveau«, attestierte Amazon-Experte Matthias Sammer die Leistung Sommers nach der Partie, und der Schweizer bedankte sich für das Lob wie ein kleiner Schuljunge, dem gerade die Bestnote vom Lehrer verkündet wurde.
Es war ein Kompliment, das ihm ganz offensichtlich viel bedeutet hat.
»Dass ich noch einmal ein Champions-League-Endspiel spielen darf, ist unglaublich«, sagt Sommer: »Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.« Das komme ihm unfassbar vor. Ein Märchen. Und das muss dann hier an dieser Stelle einmal erlaubt sein: das Sommer-Märchen.
Torwart Sommer: Nach dem Abpfiff kamen die Tränen
Foto: Luca Bruno / APSommers Rettungstat gegen Eric Garcia: Atemberaubend
Foto: Luca Bruno / APSo lang können 1,83 Meter sein
Foto: Alessandro Garofalo / REUTERSSan Siro tobt, Yann Sommer ist von den Emotionen überwältigt
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