Die Wundermaschine

Es gibt Mannschaften, die einfach vom Schicksal geküsst scheinen, die statistische Wahrscheinlichkeiten und vermeintliche Expertenmeinungen missachten und dabei sogar die hoffnungsvollsten Fans überraschen. Die in ihren Wettbewerben so weit kommen und das auf teils so wundersame Weise, dass Beobachter rätseln: Lagen alle falsch? Ist das bloß Glück? Oder Magie?

In der NBA, der stärksten Basketballliga der Welt, passiert das nicht oft.

So gründlich ist das Playoff-System, in dem man pro Runde vier Siege über den gleichen Gegner braucht, um weiterzukommen, dass man sich in den späteren Runden nur selten fragt, wie ein Team es überhaupt bis hierhin schaffen konnte.

Dieses Jahr ist so ein Jahr.

In den Finals steht auf der einen Seite Oklahoma City Thunder, statistisch eines der dominantesten Teams der vergangenen Jahrzehnte, angeführt vom Spieler der Saison (Shai Gilgeous-Alexander) und ausgestattet mit einem Überfluss an Hochbegabten.

Trotzdem herrscht nach vier Spielen Gleichstand in dieser unterhaltsamen Finalserie. Wer in der Nacht (2.30 Uhr, Stream: DAZN) das fünfte Spiel gewinnt, bekommt zwei Matchbälle zur Meisterschaft.

Oklahoma City bleibt der klare Favorit, steht aber unter gewaltigem Druck. Denn auf der anderen Seite wartet solch ein Schicksalsteam, wie es nur alle paar Jahre vorkommt: die Indiana Pacers.

Finals trotz Fehlstart

Zum ersten Mal seit 25 Jahren, als das Team aus dem mittleren Westen der USA noch vom legendären Distanzschützen Reggie Miller angeführt wurde, spielen die Pacers um die Meisterschaft.

Auch damals war Indiana der klare Underdog, denn es ging gegen die Los Angeles Lakers mit Shaquille O'Neal und Kobe Bryant.

Aber anders als heute war die Finalteilnahme in jenem Jahr keine Überraschung. In der Eastern Conference gewannen die Pacers die meisten Hauptrundenspiele, alle rechneten mit einem Finaleinzug.

Diesmal hatte fast niemand die Pacers als Titelkandidaten auf dem Schirm. Der Kader war gut, aber es fehlten richtige Schwergewichte.

Immerhin galten die Pacers als interessantes Projekt mit interessanten, jungen Spielern, denen der Saisonstart aber völlig in die Hose ging.

Anfang Dezember, 25 der 82 Hauptrundenspiele waren absolviert, stand Indiana auf dem elften Platz. Zehn Siege, 15 Niederlagen – von den Finals war nicht zu träumen.

Jetzt sind sie aber hier. Wie haben sie das geschafft?

Die Wende gelang vor allem, weil Spielmacher Tyrese Haliburton in Form kam. Der 25-Jährige gehörte im Sommer 2024 zum US-Team, das in Paris Gold gewann. Beim olympischen Turnier saß Haliburton aber fast nur auf der Bank, wofür es online Häme und Spott regnete.

Später wurde berichtet, dass er während der Olympischen Spiele nur eingeschränkt trainieren und spielen konnte, weil er noch eine Oberschenkelblessur aus der Vorsaison auskurierte.

»Das erste Mal in meinem Leben, dass ich echte Selbstzweifel hatte«

Sein Körper blieb für Haliburton ein Thema, während Indianas Fehlstart machte der Rücken Probleme. Dem Anführer der Pacers fehlten die Konstanz und das Selbstvertrauen.

»Ich habe mich zu sehr mit dem Gerede von außen beschäftigt und mir negative Gedanken über mich selbst erlaubt«, gestand Haliburton »The Athletic« gegenüber : »Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich echte Selbstzweifel hatte an allem, was ich tat.«

Nicht nur Haliburton selbst zweifelte an seiner Qualität. Bei einer Umfrage , die »The Athletic« unter 158 anonymen NBA-Profis durchführte, wurde der Pacers-Star mit 14,4 Prozent der Stimmen zum am meisten überschätzten Spieler der ganzen Liga gewählt.

Das mag an Haliburtons Statistenrolle im Olympiasommer gelegen haben. Oder an seinen unauffälligen Statistiken: nicht mal 20 Punkte im Schnitt, immerhin rund neun Assists.

Haliburton ist kein Spieler, der jeder Partie seinen persönlichen Stempel aufdrücken will, kein überathletisches, großmauliges Social-Media-Phänomen wie so viele andere Kollegen.

Doch genau das ist der Schlüssel für den Stil, mit dem Indiana im Laufe des Jahres immer besser geworden ist.

Mit Bleifuß am Ball

Die Pacers spielen wie die Weiterentwicklung der Phoenix Suns in den Nullerjahren, die mit Steve Nash einen ebenso passfreudigen Spielmacher hatten wie heute Haliburton bei Indiana.

Gemeinsam mit Trainer Mike D’Antoni prägte Nash damals die Prämisse »seven seconds or less« – so schnell sollte das Team im Angriff abschließen. Obwohl man dafür eigentlich 24 Sekunden hat.

Die Idee: den Gegner mit Athletik Richtung Korb und Dreierwürfen überfluten, keine langwierigen Einzelaktionen, kein zielloses Dribbeln.

Zwanzig Jahre später nehmen die Pacers ihren Namen offenbar wörtlich. Von den sieben Sekunden der Suns sind, überspitzt, vielleicht nur noch drei übrig.

Nach gegnerischen Angriffen sprintet das Team los und versucht, in Überzahlsituationen zu kommen oder mit Momentum am Gegner vorbeizustürmen, der sich ohnehin schon im Rückwärtsgang befindet.

Und selbst wenn das nicht klappt, ist immerhin schon mal etwas Chaos gestiftet.

Entscheidend ist dafür Haliburtons Überblick. Er weiß, wohin der Ball muss, damit der Gegner aus der Balance gerät, und traut seinen Mitspielern zu, die richtige Entscheidung zu treffen, was diese offensichtlich ansteckt.

Das ganze Team gibt sich der Eigendynamik eines schnellen, organischen Passspiels hin in der Zuversicht, dass sachliche Zusammenarbeit und Stellungsfehler des Gegners zwangsläufig zu guten Abschlüssen führen.

Wunder gibt es immer wieder

Diese Sturmflut-Offense von Trainer Rick Carlisle, den deutsche Basketballfans als Meistertrainer der Dallas Mavericks 2011 mit Dirk Nowitzki kennen, war auch einer der Gründe, warum die Pacers in den Playoffs so viele Comebacks geschafft haben.

So unglaublich und rechnerisch nahezu unmöglich waren diese Comebacks, dass das im Sportkontext inflationär platzierte Prädikat Wunder nicht mal überzeichnet ist. Zumal es immer wieder passiert ist – fünfmal, um genau zu sein.

  • Runde eins, Spiel fünf gegen die Milwaukee Bucks. Größter Rückstand während des Spiels: 20 Punkte. Nur 40,1 Sekunden vor Schluss lagen die Pacers mit sieben Punkten hinten. Sieg: Indiana.

  • Runde zwei, Spiel zwei gegen die Cleveland Cavaliers. Größter Rückstand während des Spiels: 20 Punkte. Nur 47,9 Sekunden vor Schluss lagen die Pacers erneut mit sieben Punkten hinten. Sieg: Indiana.

  • Runde zwei, Spiel fünf gegen die Cavaliers. Größter Rückstand während des Spiels: 19 Punkte mit 8:10 Minuten im zweiten Viertel. Noch vor der Pause stürmten die Pacers zurück. Sieg: Indiana.

  • Runde drei, Spiel eins gegen die New York Knicks. Größter Rückstand während des Spiels: 17 Punkte nur 6:26 Minuten vor Ende der regulären Spielzeit. Nur 41,7 Sekunden vor Spielende lagen die Pacers mit acht Punkten hinten. Haliburton glich mit der Schlusssirene aus – in der Verlängerung gewann Indiana.

  • Finals, Spiel eins gegen Oklahoma City Thunder. Größter Rückstand während des Spiels: 15 Punkte nur 9:42 Minuten vor Ende der regulären Spielzeit. In letzter Sekunde traf Haliburton zum Sieg.

Der US-Sportsender ESPN hat ein Rechenmodell, das die Siegwahrscheinlichkeit von Spielsituationen durch den Abgleich mit Daten vergangener Partien errechnet. Die statistischen Wahrscheinlichkeiten für die Comebacks der Pacers in diesen Playoffs:

0,5 Prozent, 1,9 Prozent, 6,5 Prozent, 0,2 Prozent, 2,1 Prozent.

Wie kann das sein? Wie ist diesem Team immer wieder das Wunder gelungen?

Wer so schnell abschließt und gute Dreierschützen hat, kann auch zweistellige Führungen schnell zum Schmelzen bringen.

Innerhalb von nur wenigen Ballwechseln ist mit dieser Spielweise zum Beispiel ein 9:0-Lauf möglich, plötzlich ist man in Schlagweite, der Gegner wird nervös.

Indiana spielt einen methodischen Bleifußbasketball, gegen den keine noch so große Führung sicher ist. Wenn das Team einmal ins Rollen kommt und die Dreierschützen ihren Rhythmus finden, scheint jede Aufholjagd möglich.

Eine Erklärung für den Erfolg in knappen Schlussphasen zu finden, ist deutlich schwieriger. Da landet man schnell wieder bei den eingangs zitierten Vermutungen: Glück? Magie?

Für Carlisle ist das Quatsch: »Das war keine Magie, sondern Vertrauen in die Prozesse«, sagte er nach Spiel fünf gegen Milwaukee.

Dieser Prozess ist offenbar kein Hexenwerk, denn nach dem Comeback im ersten Finalspiel erklärte ihn Carlisle so: »Wenn wir den Ball haben, geben wir ihn in Tyreses Hände und lassen ihn einen Spielzug machen.«

Haliburton scheint der Druck in solchen Momenten offenbar wenig auszumachen: »Ich habe einfach das getan, was ich immer tue: dem Spiel vertrauen und meinen Instinkten folgen«, sagte der angeblich am meisten überschätzte Spieler der Liga. Nachdem er Spiel eins der NBA-Finals entschieden hatte.

Heute unterstützt Reggie Miller als Zuschauer seine Pacers

Foto: Kyle Terada / IMAGN IMAGES / Reuters Connect

Tyrese Haliburton spielt in den Finals gegen den deutschen Center Isaiah Hartenstein

Foto:

Michael Conroy / AP

Den Gegner überrumpeln: Pascal Siakam ist Indianas bester Scorer

Foto: Michael Conroy / AP

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