Erneuerbare Quellen decken mittlerweile fast 57 Prozent des deutschen Stromverbrauchs, bis 2030 sollen es 80 Prozent sein. Da Solar- und Windkraftwerke bei Dunkelheit und Flaute allerdings keinen Strom liefern, müssen steuerbare Kapazitäten die Lücken füllen – und dafür kommen für Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) nahezu ausschließlich Gaskraftwerke infrage.
Eine Untersuchung der Unternehmensberatung Roland Berger im Auftrag des Energiedienstleisters Enpal widerspricht dem jedoch deutlich. Dezentrale Lösungen – etwa Photovoltaikanlagen, Batteriespeicher oder Wärmepumpen – würden demnach im Zeitraum von 2025 bis 2045 einen geschätzten Mehrwert von 185 bis 255 Milliarden Euro bieten, rechnen die Experten vor. Die Nutzung dezentraler Lösungen als Alternative zu Gaskraftwerken sei »unumgänglich zur Sicherstellung der künftigen Versorgungssicherheit in Deutschland«.
Zwar hätten auch Gaskraftwerke »ihre Daseinsberechtigung in einem gesamtkosteneffizienten System«, heißt es in dem 25-seitigen Papier, das dem SPIEGEL vorab vorlag – nur sehen die Autoren diese Rolle offenbar nicht annähernd so dominant wie Reiche.
Der Bericht, der am Dienstag in Berlin von einer Allianz aus 20 Unternehmen aus Industrie, der Mobilität- und der Neue-Energien-Branche vorgestellt wurde, argumentiert ausgerechnet mit geringeren Kosten und besserer Systemdienlichkeit – also genau jenen Argumenten, mit denen Reiche ihre Präferenz von Gaskraftwerken begründet.
»Dezentrale Systeme seinen »digital, vernetzt und intelligent«, schreiben die Gutachter. Damit könnten sie »systemdienlich und stabilisierend im Stromsystem wirken«. Die Abdeckung des künftig steigenden Energiebedarfs »allein durch erneuerbare Energien oder fossile Brennstoffe ist aus Kosteneffizienz- sowie Systemgründen nicht anzustreben«, heißt es. Es brauche »ein Zusammenspiel aus zentralen und dezentralen Lösungen, um alle künftigen Bedarfe abzudecken und Gesamtkosteneffizienz zu erreichen«.
Allein zu deren Steigerung könnten dezentrale Lösungen einen Beitrag von rund 40 bis 60 Milliarden Euro in den nächsten 20 Jahren leisten. Durch die Vermeidung von Netzausbaukosten ließen sich weitere 18 bis 27 Milliarden Euro einsparen. Endverbraucher könnten 14 bis 18 Milliarden Euro an Kosten vermeiden, davon entfallen nach Angaben von Roland Berger 11 bis 15 Milliarden auf private Haushalte.
Hinzu käme, dass bis 2045 etwa 106 bis 142 Milliarden Euro an privaten Investitionen mobilisiert würden: 79 bis 105 Milliarden durch Haushalte und 27 bis 37 Milliarden durch kleine und mittlere Unternehmen.
Die Autoren warnen auch aus einem anderen Grund vor der einseitigen Bevorzugung von Gaskraftwerken: Sie würden die Gefahr einer erneuten Abhängigkeit steigern. Zur »Senkung des geopolitischen Risikos« sei es jedoch geboten, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Die Stärkung dezentraler Lösungen würde dagegen zusätzlich den Technologiestandort Deutschland stärken und könnte global wettbewerbsfähige Marktführer entstehen lassen.
Ministerin Reiche ist dagegen bisher auf einem anderen Kurs: Sie will neue Gaskraftwerke mit einer Gesamtkapazität von mindestens 20 Gigawatt neu bauen lassen. Auch ihr grüner Vorgänger Robert Habeck wollte neue Gaskraftwerke, aber nur mit insgesamt 12,5 Gigawatt. Schon das konnte er nur mit Mühe gegen beihilferechtliche Bedenken der EU-Kommission durchsetzen. Ob Reiche nun 20 Gigawatt oder noch mehr durchsetzen kann, steht in den Sternen. Ein Durchbruch ist in Brüssel trotz monatelanger Verhandlungen bisher nicht in Sicht.
Photovoltaikanlage auf einem Hausdach: Mehrwert durch dezentrale Lösungen
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