Worum geht es eigentlich?
Die Große Koalition hat angekündigt, am Sozialstaat zu sparen. Und tatsächlich sind die Kosten für die Pflegeversicherung in den vergangenen Jahren drastisch in die Höhe geschossen. Die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung lagen zuletzt bei 68,2 Milliarden Euro, Tendenz stark steigend. Es droht eine Finanzlücke von 3,5 Milliarden Euro, warnte im Sommer der Bundesrechnungshof.
Was man dagegen tun könnte, wird in der Regierung eifrig debattiert. Am Sonntag gab es nun Berichte, wonach die Regierung erwägt, den Pflegegrad 1 zu streichen. Führende Politiker von Union und SPD hatten bestätigt, dass über eine solche Kürzung nachgedacht werde.
Was bedeuten die Pflegegrade?
Die Unterstützung für pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige richtet sich nach den Pflegegraden. Nach einer eingehenden Untersuchung werden die Fälle einem Pflegegrad zugeordnet, der angibt, wie viel Unterstützung nötig ist. Die Pflegegrade reichen von geringer Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (Pflegegrad 1) bis zur schwersten Beeinträchtigung, die mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung einhergeht (Pflegegrad 5). Früher gab es drei Pflegestufen. Das System wurde vor knapp zehn Jahren reformiert, seit 2017 gelten die Pflegegrade.
Welchen Stellenwert hat Pflegegrad 1?
Ein Ziel der Reform 2017 war es, Menschen auch bei nur geringem Pflegebedarf frühzeitig und in kleinem Umfang Hilfe zukommen zu lassen. So will man verhindern, dass sie später viel hilfloser sind und teurere Unterstützung benötigen, etwa einen Platz im Pflegeheim.
Fanden bis dahin fast nur körperliche Einschränkungen Geltung, wurde der Begriff der Pflegebedürftigkeit 2017 um kognitive oder geistige Einschränkungen erweitert. Das soll der wachsenden Zahl Demenzkranker Rechnung tragen.
86 Prozent der Pflegebedürftigen leben zu Hause. Um sie kümmern sich überwiegend Angehörige und teils ambulante Betreuungsdienste, die etwa zur Körperpflege oder zum Wechseln von Wundverbänden in die Wohnung kommen. In vielen dieser Fälle wurde zuvor Pflegegrad 1 festgestellt.
All das hat – völlig erwartbar – zu einem Anstieg der Fallzahlen geführt. Die ohnehin wegen des demografischen Wandels seit Jahren zunehmen. Ende 2024 waren rund sechs Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, Tendenz steigend.
Welche Geldleistungen umfasst der Pflegegrad 1?
Menschen mit Pflegegrad 1 erhalten:
einen zweckgebundenen Entlastungsbetrag bei ambulanter Pflege von maximal 131 Euro monatlich zur Finanzierung von Haushaltshilfen, Betreuung oder ähnlicher Unterstützung. Diese Ausgaben müssen mit der Rechnung belegt werden.
Hinzu kommen Leistungen in ambulant betreuten Wohngruppen von bis zu 224 Euro monatlich, dieser sogenannte Wohngruppenzuschlag gilt ebenfalls für alle Pflegegrade.
Bei vollstationärer Pflege gibt es pauschal 131 Euro Entlastungsgeld.
Auch Zuschüsse etwa bei einem nötigen barrierefreien Umbau der Wohnung bis zu 4180 Euro stehen zur Verfügung sowie kleinere Beiträge für digitale Pflegeanwendungen und Pflegehilfsmittel.
Pflegegeld, Pflegesachleistungen oder auch Leistungen für Kurzzeitpflege gibt es erst ab Pflegegrad 2. Hier reicht die monatliche Unterstützung etwa beim Pflegegeld von 347 Euro (Pflegegrad 2) bis zu 990 Euro (Pflegegrad 5).
Was gibt es darüber hinaus?
Da eine Einstufung in Pflegegrad 1 die weitere Verschlechterung des Zustands verhindern soll, gehören auch zahlreiche Angebote jenseits der Geldleistungen dazu. Unter anderem:
Pflegeberatung,
ein halbjährlicher Beratungsbesuch oder
Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen.
Wie wird die Pflegebedürftigkeit festgestellt?
Prüfer des Medizinischen Dienstes besuchen die Antragsteller in der Regel persönlich zu Hause und erstellen anschließend ein fachliches Gutachten, auf dessen Basis ein passender Pflegegrad vorgeschlagen wird. Dabei spielen viele Faktoren zusammen, ausschlaggebend ist der Grad der Selbstständigkeit. So wird etwa der Tagesablauf abgefragt, typische Tätigkeiten im Haushalt oder wie gut die Betreffenden durch die Nacht kommen: Müssen sie oft auf die Toilette, sind sie dabei körperlich stabil oder schlafen sie durch?
Die Gutachter fragen zudem, wie die Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen erhalten und gestärkt werden kann und empfehlen Hilfsmittel oder Präventionsmaßnahmen.
Was soll eine Streichung von Pflegegrad 1 bringen?
Ende des vergangenen Jahres hatten insgesamt 863.700 Menschen einen Pflegegrad 1 und erhielten Leistungen aus der Pflegeversicherung. Die meisten Pflegebedürftigen hatten im vergangenen Jahr Pflegegrad 2 oder 3, insgesamt waren es hier fast 3,9 Millionen Menschen in der ambulanten oder stationären Pflege. Pflegegrad 4 erhielten etwa 649.400, Pflegegrad 5 rund 235.100 Menschen.
Wenn der Pflegegrad 1 wegfällt, rechnen Befürworter mit Einsparungen von 1,8 Milliarden Euro pro Jahr.
Theoretisch müsste man die Kosten auf der anderen Seite gegenrechnen: Patienten, deren Zustand sich ohne Unterstützung so verschlechtern könnte, dass sie später deutlich teurere Pflegemaßnahmen brauchen. Praktisch lässt sich das aber nur schwer beziffern.
Allerdings wird schon länger kontrovers diskutiert, dass viele Menschen im Pflegegrad 1 vor allem an den damit verbundenen Geldleistungen interessiert seien, weniger an den Beratungen und Fortbildungen. Kritiker der Pflegereform von 2017 führen gern an, dass der Pflegegrad 1 in zahlreichen Fällen von Personen in Anspruch genommen wird, die eigentlich keine Pflegeleistungen benötigen würden. Allerdings müssen auch sie ihre Pflegeausgaben mit Quittungen belegen und bekommen die Rückzahlung nur, wenn die Dienstleister bestimmten Kriterien genügen.
So schrieb der Sozialwissenschaftler Stefan Sell bereits vor rund einem Jahr zu dem Thema, es bleibe eine »berechtigte Fragestellung«, ob die Erfahrungen mit dem Pflegegrad 1 mit den Zielen der Pflegereform von 2017 konform gehen. Eine platte Abschaffung, »um die Ausgabenseite zu entlasten«, greife aber zu kurz. Schließlich träfe sie auch Fälle völlig berechtigter Inanspruchnahme.
Wie sind die Reaktionen?
Vor allem Sozialverbände halten eine Abschaffung des Pflegegrads 1 für einen falschen Schritt. Diese relativ günstige Hilfe sei insbesondere für pflegende Angehörige sowie für Menschen mit geringen Beeinträchtigungen eine Entlastung. Außerdem ermögliche es den Betroffenen, länger größtenteils selbstständig in den eigenen vier Wänden zu wohnen.
Der Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) hebt den Nutzen des Pflegegrads 1 hervor: Er biete wichtige Hilfen für Menschen mit beginnenden körperlichen oder demenziellen Einschränkungen. »Mit dieser Hilfe werden nachbarschaftliche Hilfestrukturen befördert und ein Verbleib in der Häuslichkeit unterstützt. Eine Streichung führt jegliche Bemühungen, Menschen in ambulanten Settings zu halten und zu unterstützen, ad absurdum.« Die Bundesregierung betreibe »Panikmache«. Stattdessen brauche es eine umfassende Pflegereform. Hierzu liegt laut den Verbänden eine Vielzahl an Vorschlägen bereits vor.
Kritik gibt es von mehreren Stimmen der Oppositionsparteien. Zum Beispiel von der grünen Sozialministerin Schleswig-Holsteins, Aminata Touré, die den Vorstoß »völlig unüberlegt« nennt. Die Maßnahme würde den Pflegenotstand im Land verschärfen und die pflegenden Angehörigen zusätzlich belasten. »Ich erwarte von der Bundesregierung eine seriöse Reform der sozialen Pflegeversicherung und keinen Schnellschuss zulasten von 860.000 Pflegebedürftigen.«
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Pflegegrad 1 tatsächlich gestrichen wird?
Im Koalitionsvertrag findet sich davon nichts, und die SPD lehnt die Abschaffung ab. So schloss SPD-Fraktionschef Matthias Miersch eine Abschaffung des Pflegegrads 1 aus. Fest steht, dass derzeit eine Kommission zur Pflegereform berät. Diese soll bis Mitte Oktober erste Vorschläge unterbreiten. Dann könnte die Diskussion durchaus interessanter werden.