Utahs Gouverneur Spencer Cox hat mittlerweile mehrfach erklärt, der 22-jährige Tyler Robinson, der vergangene Woche mutmaßlich den Polit-Influencer Charlie Kirk erschoss, komme zwar aus einer konservativen Familie, aber es habe »in den vergangenen Jahren klar eine linke Ideologie gegeben«. Details über konkrete Hinweise auf diese »Ideologie« blieb Cox auf Nachfrage von Journalisten stets schuldig. In Wahrheit ist alles sehr viel weniger eindeutig.
Robinson ist Mormone. »Mein Sohn, sein Vater, ist ein Pro-Trump-Republikaner«, sagte Debbie Robinson , die Großmutter des mutmaßlichen Täters, der britischen »Daily Mail«. »Newsweek« bestätigte später , dass der Vater, der 48-jährige Matt Robinson, als Republikaner registriert ist. »Die meisten Mitglieder meiner Familie sind Republikaner. Ich kenne keinen einzigen, der ein Demokrat ist«, so die Großmutter weiter. Eine frühe, viel zitierte Behauptung eines angeblichen Schulkameraden von Robinson, dieser sei »links« gewesen, wurde kurz darauf vom britischen »Guardian« wegen unklarer Quellenlage zurückgezogen .
Tyler Robinson lebte jüngsten Angaben zufolge nach einem einzigen Semester am College wieder in seiner Heimatstadt im südlichen Utah und machte eine Ausbildung zum Elektriker . Er wohnte nicht mehr zu Hause, sondern mit einem »Mitbewohner« zusammen. Mittlerweile spricht Gouverneur Cox , ein Republikaner, von einem »romantischen« Partner Robinsons, der dabei sei, »vom männlichen in das weibliche Geschlecht überzugehen« (transitioning from male to female). Tyler Robinson war demnach mit einer trans Person liiert. Diese Person, so Cox, sei »schockiert« von Tyler Robinsons Tat und kooperiere vollumfänglich mit den Behörden.
(Lesen Sie hier mehr darüber, was über Tyler Robinson bekannt ist.)
Kirk hatte sich im Laufe seiner Karriere wieder und wieder äußerst abfällig über trans Menschen geäußert. Als der Schuss ihn traf, antwortete er gerade auf die Frage, ob er wisse, wie viele Massenmorde in den USA in den vergangenen Jahren von trans Personen begangen worden seien (»zu viele«). Es ist in Wahrheit ein winziger Prozentsatz , doch das Narrativ, trans Menschen seien potenzielle Massenmörder , ist bei amerikanischen Rechtsradikalen sehr populär.
Cox ist derzeit die einzige Primärquelle, die offen über den Täter und seine Motive spricht, und seine Meinung schien schon in der ersten Pressekonferenz zu dem Attentat festzustehen. Auf einer der Patronenhülsen, die die Polizei fand, war »Hey fascist! Catch!«, eingeritzt, gefolgt von einer Abfolge von Pfeilen: hoch, rechts, dann dreimal nach unten. Das spreche für sich, sagte Cox bei der ersten Pressekonferenz nach der Tat. Auch Donald Trump war sich sofort sicher, dass der Täter »linksradikal« sein müsse und drohte Repressionen gegen »linke NGOs« an.
Cox sagte »spricht für sich«, augenscheinlich jedoch ohne zu wissen, dass die Pfeilfolge eine Anspielung auf das Videospiel »Helldivers 2« ist, eine Tastenkombination, mit der man in dem Spiel, in dem satirisch dargestellte Faschisten gegen Aliens kämpfen, eine besonders große Bombe abwirft. Die Pfeilfolge ist ein Meme , ein Gamer-Insiderwitz aus diesem Spiel. Auch die Botschaften auf den anderen Patronenhülsen waren für die Ermittler offenbar zunächst rätselhaft:
»If you read this, you are gay LMAO« (»Wer das liest ist schwul, laughing my ass off«)
»O bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao« (ein Lied über antifaschistische Partisanen aus Italien)
»Notices bulges OwO what’s this?« (»bemerkt Wölbungen, OwO was ist das?« – OwO ist ein »Aufgerissene Augen«-Emoji)
Ersteres ist eine typische Gamer-Trollerei, Letzteres ein altes, sexuell konnotiertes Meme , das sich auf die sogenannte Furry-Kultur bezieht und in der Regel benutzt wird, um andere online zu provozieren.
Terminally online
Tyler Robinson war, da sind sich diverse Quellen aus seinem Umfeld einig, ein begeisterter Gamer und verbrachte viel Zeit online, wie die meisten Menschen seiner Altersgruppe. »Freunde haben bestätigt, dass es da diese gewissermaßen dunkle, tiefe Internetkultur gab und diese anderen finsteren Orte«, in die Robinson »tief eingestiegen sei«, sagte Gouverneur Spencer Cox dem Sender NBC .
Die Botschaften auf den Patronenhülsen reflektieren aber keineswegs »linke Ideologie«, wie Cox unmittelbar schlussfolgerte. Sie sind vielmehr für ein Publikum gedacht, das der Welt entstammt, in der Tyler Robinson offenbar viel Zeit verbracht hatte. Der Welt von Videospielen, Chat-Apps und Messageboards, Memes und In-Jokes. Einer Welt, in der ständige Provokation zum guten Ton gehört, genau wie Mehrdeutigkeit.
Zwei Bilder, die auf dem mittlerweile gelöschten Facebook-Profil seiner Mutter zu finden waren, zeigen Tyler Robinson für Halloween als Meme kostümiert: einmal im Jahr 2018 in hockender Haltung in einem schwarzen, engen Adidas-Trainingsanzug mit einer schwarzen Schiebermütze. Und einmal im Jahr 2017 mit einem aufblasbaren Donald Trump um die Hüften gebunden, sodass der Eindruck entsteht, die Person, die das Kostüm trage, reite huckepack auf Trump. Das Gesicht und die Hände des US-Präsidenten waren in Tyler Robinsons Variante grün.
Pepe und die Groypers
Beides sind Anspielungen auf »Pepe the frog«, eine ursprünglich harmlose, aber spätestens ab 2015 von Teilen der Alt-Right-Bewegung in den USA gekaperte Comicfigur. Die zur Bekämpfung des Antisemitismus gegründete US-Organisation Anti Defamation League in den USA stufte Pepe the Frog seit 2016 als »Hate Speech« ein . Es gibt eine Version des Froschs in schwarzem Trainingsanzug , die sich wiederum auf das »Squatting Slavs«-Meme (hockende Slawen) bezieht, das es bereits seit 2012 gibt. Meme-Bilder von Donald Trump mit grünem Pepe-Gesicht, auf die sich das zweite Kostüm augenscheinlich bezieht, gibt es zuhauf. Trump teilte 2016 selbst Pepe-Bilder .
Der Frosch, in einer Version mit unter dem Kinn gefalteten Händen, ist ein Symbol der sogenannten Groyper , einer Sub-Subkultur innerhalb der extremen amerikanischen Rechten, der Leute wie der ermordete Charlie Kirk nicht rechts genug sind. Angeführt wird diese Gruppe von dem Holocaustleugner Nick Fuentes, der Kirk immer wieder öffentlich attackiert hat.
Die »Groyper-Wars«-Playlist enthält »Bella Ciao«
2019 riefen Fuentes und ein weiterer »White Supremacist« namens Patrick Casey die sogenannten Groyper-Wars aus . Dies äußerte sich in erster Linie darin, Kirk und seine Fans zu provozieren: »Groyper« tauchten in Gruppen bei Kirks Debattenauftritten in US-Colleges auf und versuchten, ihn und seine Fans mit aggressiven Fragen zu Themen wie Antisemitismus und Homosexualität vor sich herzutreiben.
»Bella Ciao« wiederum ist zwar ein antifaschistischer Song aus Italien, taucht aber auch in dem Ego-Shooter »Far Cry 6« und in der TV-Serie »Haus des Geldes« auf – und auf der Spotify-Playlist »Groyper Wars (America First)«, kuratiert von einem Account mit Pepe-Avatar.
Klingt verwirrend – und soll es auch sein: Ein wesentliches Merkmal der Meme-Kultur, die in den vergangenen zehn bis 20 Jahren entstanden ist, sind beständige Mutationen, Umdeutungen, Andeutungen, mit dem Ziel, einerseits ständig scherzend, andererseits für Eingeweihte mindestens unverständlich, im Zweifel maximal provozierend zu wirken.
Als Ende der Woche die Spekulationen in Teilen der sozialen Medien lauter wurden, Tyler Robinson könne als »Groyper« getötet haben, wirkte deren »Gründer« Nick Fuentes, der Kirk noch im August heftig attackiert hatte , leicht panisch. »Die Mainstream-Medien hängen meinen Anhängern und mir gerade auf Basis von buchstäblich null Evidenz den Mord von Charlie Kirk an«, so Fuentes auf X. In einem Video rief er parallel jedoch dringlich zur Gewaltlosigkeit auf: »An all meine Anhänger: Wenn ihr zu den Waffen greift, will ich nichts mehr mit euch zu tun haben, ich wende mich dann in der denkbar stärksten Weise von euch ab.«
Ein Verbrechen für das Internet
Dass der mutmaßliche Schütze ein »Groyper« war, zeigen weder Halloween-Verkleidungen, die er als Teenager wählte, noch die kryptischen Meme-Botschaften auf den Patronenhülsen. Daran aber, dass Tyler Robinson tief in die Meme- und Gaming-Kultur eingebettet war, kann kaum ein Zweifel bestehen: Er scheint sie, oder mindestens Untergruppierungen davon, sogar als seine Hauptzielgruppe betrachtet zu haben.
Die öffentliche Ermordung Charlie Kirks war ein Verbrechen, in dem das Internet und soziale Medien eine zentrale Rolle spielen sollten und mussten. Kirks öffentliche Auftritte waren stets Social-Media-Ereignisse. Einerseits, weil er sie selbst dazu machte, mit Schnipseln, in denen »linke« oder »woke« Gesprächspartnerinnen besonders schlecht wegkamen, die Kirk und sein Team selbst online stellten. Andererseits, weil natürlich jeder Austausch hundertfach gefilmt wurde.
Öffentlicher Mord als Trend?
Der Täter konnte sich sicher sein, dass zahlreiche Smartphones den Moment des Schusses live aufzeichnen, vielleicht sogar live ins Netz streamen würden. Tyler Robinson hinterließ am Tatort Botschaften, die zunächst nur eine In-Group verstehen würde. Die sollte sich dann wiederum über die offensichtlich ahnungslosen Behörden und Politiker lustig machen können, die diese Botschaften nicht verstanden. Onlineruhm war dem Täter sicher. Es gibt in Teilen dieser Subkultur einen Kult der Gewalt , in dem auch (Massen-)Mord nur ein Meme ist. Andere Polit-Influencer bekommen jetzt Angst . Was, wenn nach dem School-Shooting nun auch der öffentliche Mord zum Trend wird?
Es gibt weitere verwirrende Querverbindungen. So hatte auch der Mann, der mutmaßlich den CEO der Krankenversicherung United Healthcare erschoss, Botschaften auf seine Patronenhülsen eingeritzt (»deny«, »depose« und »defend« ). Das Spiel mit Signalen, Symbolen und Insiderbotschaften wiederum weist gewisse Parallelen zu manchen der Massenmorde in Schulen und anderen Einrichtungen in den USA auf, deren Zahl in den vergangenen fünf Jahren sprunghaft angestiegen ist . Auch hier geht es den Tätern oft um Beifall aus dem Netz.
Robinsons Verhältnis zu seiner Familie war augenscheinlich gut genug, dass er sich nach der Tat seinem Vater offenbarte, der ihn dann überredete, sich der Polizei zu stellen. Was genau den Mann motiviert hat, Kirk zu töten, wird vielleicht nie völlig verständlich werden. Dass es schlicht »linke Ideologie« war, wie Trump und Spencer Cox behaupten, erscheint jedoch mehr als fraglich.