Seit die Europäische Union existiert, gilt sie als zerstritten. Mittlerweile 27 Länder, 24 Amtssprachen und Tausende historische und politische Befindlichkeiten unter einen Hut zu bekommen, ist eben keine leichte Aufgabe. Trotzdem war die EU in den vergangenen 30 Jahren auf den Uno-Klimakonferenzen meistens ein Vorreiter und setzte sich für ein Weltklimaabkommen und dessen Umsetzung ein. Das wurde 2015 in der EU unter französischer Führung in Paris beschlossen, und es war nicht zuletzt der europäischen Diplomatiekunst zu verdanken.
Dann preschte die EU 2020 mit dem Green Deal vor, einem der größten Klimavorhaben, das die Welt je gesehen hat. Daraus resultierten mehr als 50 Gesetzesvorhaben, die auf verschiedene Bereiche wie Energie, Verkehr, Landwirtschaft, Industrie und Biodiversität abzielen. Ein riesiger Kraftakt, bedenkt man, dass alle Gesetze und Verordnungen in 27 Ländern umgesetzt werden müssen.
In der Folge sinken die CO2-Emissionen, wenn auch nicht genug. Doch der Wind hat sich auch in der EU gedreht. Rechtskonservative Kräfte im EU-Parlament haben zugelegt und auch im Europäischen Rat sind die Staats- und Regierungschefs bei Weitem nicht mehr so gut auf den Klimaschutz zu sprechen. Die drei großen »M« in Europa – Merz, Macron, Meloni – sind eher keine Klimavorreiter.
Da verwundert es nicht, dass mittlerweile die EU-Kommission bei dem Thema progressiver ist als viele ihrer Mitglieder. Anfang Juli machte sie den Vorschlag, bis 2040 immerhin schon 90 Prozent der Klimaemissionen gegenüber 1990 einzusparen. Es sei ein »pragmatischer und realistischer« Weg, ließ Ursula von der Leyen schriftlich ausrichten.
Das war zwar nicht ganz so enthusiastisch wie noch vor fünf Jahren, als die Kommissionschefin von »Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment« sprach. Dennoch lobten selbst Klimaforscher das 90-Prozent-Ziel, auch wenn die Kommission Hintertürchen wie Zertifikate aus Drittländern einbaut. Lesen Sie dazu hier mehr .
Experten betonten aber auch, dass 90 Prozent die untere Schmerzgrenze sei, mit weniger sei das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 schlicht nicht zu erreichen. Doch genau das steht jetzt auf dem Spiel.
Rollback in Europa: In den Dreißigerjahren wird es ernst
Kleiner Reminder: Für 2030 hat die Union bereits ein Klimaziel. Bis dahin müssen Fabriken, Kraftwerke und Autos mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase im Vergleich zu 1990 in die Atmosphäre blasen. Laut Experten ist das noch knapp zu schaffen. In den Dreißigerjahren werden die Einsparungen jedoch immer schwieriger. Dann wird sich zeigen, wie ernst Europa es wirklich mit dem Klimaschutz meint. Denn die erlaubten Mengen an CO₂ sinken stetig, der Ausstoß des Gases wird immer teurer und die Spielräume für Unternehmen immer kleiner.
Auch deshalb gibt es Druck aus der Industrie und der Autobranche, bestehende Klimaregeln bereits jetzt aufzuweichen. Zwei Beispiele aus dieser Woche:
Der Chef des Stuttgarter Autozulieferers Bosch, Stefan Hartung, fordert eine Abkehr vom Ausstieg aus Verbrennerautos bis 2035 in Europa. Er sagte dem SPIEGEL : »Es wird nach 2035 weiterhin eine erhebliche Zahl an Verbrennern gebaut werden, allerdings mit der jetzigen Regulierung nicht für und auch nicht in Europa«. Auch andere große Autohersteller und der Autolobby-Verband VDA machen Druck, die Regelung zu kippen. Die Union und Friedrich Merz wollen das ebenfalls, wie die SPIEGEL-Kollegen diese Woche anlässlich der Automesse IAA berichten.
Teile der Industrie versuchen zudem, das zentrale Klimaschutzinstrument der EU, den Emissionshandel, zu schwächen. Das forderte etwa der Stahlkonzern Thyssenkrupp von der EU-Kommission. Dabei geht es um CO2-Gutschriften, die schrittweise verknappt werden. Das solle langsamer passieren, damit die Preise nicht so schnell steigen. Merz hat nun erstmals Verständnis für dieses Ansinnen gezeigt, wie das »Handelsblatt« berichtet .
Solche Forderungen und Vorstöße zeigen: Das Klimaziel für 2040 ist entscheidend dafür, ob der Klimaschutz in den Dreißigerjahren zügig weitergeht. Verwässert man das Ziel hingegen oder baut weitere Hintertüren ein, könnte das sogar Folgen für bestehende Verordnungen haben, etwa für den Emissionshandel oder das Verbrenner-Aus ab 2035.
Deutschlands Votum entscheidet über Hop oder Top
Auch deshalb gibt es in den nächsten Wochen wahrscheinlich ein Verhandlungsdrama. Am Freitag wurde bekannt, dass sich die deutsche Regierung nach internen Kämpfen doch noch darauf geeinigt hat, dem 90-Prozent-Ziel für 2040 geschlossen zuzustimmen. Allerdings mit einem Wermutstropfen, der das ganze Vorhaben am Ende gefährden könnte.
Denn der Showdown für das 2040er-Klimaziel sollte eigentlich am nächsten Donnerstag, den 18. September, sein. Da treffen sich die EU-Umweltminister in Brüssel, um über das Ziel abzustimmen. Dort hätte es eine Mehrheit der Mitgliedstaaten benötigt, insgesamt 15 von 27 Ministerinnen und Ministern hätten mit »Ja« stimmen müssen. Im besten Fall wäre die Sache damit erledigt gewesen. Vor allem, wenn Deutschland sich dafür ausspricht, wäre ein Erfolg nicht unwahrscheinlich gewesen.
Doch den Termin sagte man am Freitag kurzerhand ab, auch weil Deutschland sich dafür einsetzte, die Abstimmung zu verschieben, heißt aus informierten Kreisen. Vorerst solle nun auf höchster Ebene, also von den Staats- und Regierungschefs beraten werden. Das Bundesumweltministerium schreibt auf SPIEGEL-Anfrage am Freitagnachmittag etwas kryptisch: »Was das genaue Verfahren angeht, ist es jetzt Sache der Ratspräsidentschaft und des Ratspräsidenten, eine gute Schrittfolge für die Befassung festzulegen.« Möglich seien Beratungen im informellen Europäischen Rat am 1. Oktober. Danach, so die Hoffnung, könne die Klimaziel-Entscheidung dann wieder zurück zu den EU-Umweltministern und ins EU-Parlament gehen. Der Grund für das Spektakel: Präsident Emmanuel Macron wolle Zugeständnisse und »pokere hoch«, wie es aus Verhandlungskreisen heißt. Das hoffe man am 1. Oktober einfangen zu können.
Doch Beobachter bezweifeln, dass dieser Plan aufgeht. Der grüne EU-Abgeordnete Michael Bloss hält die Verschiebung für den Anfang vom Ende des 90-Prozent-Klimaziels. »Die Bundesregierung hat in Brüssel das europäische Klimaziel von der Tagesordnung genommen und die Entscheidung an die Staats- und Regierungschefs verschoben. Dort droht dem Klimaschutz ein jämmerlicher Tod«. Das Problem: Im Rat ist ein einstimmiges Votum für Beschlüsse nötig. Auch wenn Frankreich dann zustimmt, reicht es, wenn sich Klimabremser wie Ungarn oder Polen querstellen. Beide Länder plädieren wie auch Italien für weniger Einsparungen bis 2040. Sie wollen das Ziel am liebsten loswerden.
Der Grünenabgeordnete unterstellt Kanzler Merz sogar Kalkül: »Das Manöver ist durchschaubar. Wer die deutschen Klimaziele schleifen will, hat kein Interesse an europäischem Fortschritt.«
Behält er Recht und sollte das EU-Klimaziel durch die Einstimmigkeit im Rat wirklich durchfallen oder abgeschwächt werden, hätte das auch fatale Folgen für die Weltklimadiplomatie.
Bei der Uno müssen die Länder laut dem Pariser Weltklimaabkommen alle fünf Jahre nationale Emissionspläne vorlegen, sogenannte »national festgelegte Beiträge« (NDCs). Die Frist für das 2035er NDC lief im Februar ab, bisher haben nur knapp 30 Länder neue Ziele eingereicht. Auch die EU fehlt noch. Der Grund: Ohne das 2040er-Klimaziel der Union, das ja noch in der Schwebe ist, kann sie auch keine NDCs abgeben, denn die Uno-Pläne leiten sich daraus ab. Einige Mitgliedstaaten schlagen nun vor, das Uno-Ziel und das neue 2040er-Ziel zu trennen, falls man sich nicht einigen kann. Doch auch dafür läuft die Zeit ab, denn bereits in weniger als zwei Monaten beginnt die Weltklimakonferenz in Brasilien. Zudem vermuten Beobachter, das NDC könnte dann schwächer ausfallen, weil das ehrgeizige Zwischenziel fehlt.
Für das Klimaziel-Desaster machen Nichtregierungsorganisationen wie 350.org primär Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni und rechte Antieuropäer wie Viktor Orbán verantwortlich. Die deutsche Opposition, etwa der Europaabgeordnete Bloss hält vorrangig die Merz-Regierung in Berlin für schuldig: Merz wisse ganz genau, dass man Europas Klimaziele auf diesem Wege der Willkür von Viktor Orbán unterwerfen und damit beerdigen werde. »Das ist kein Aufschub, das ist das geplante Scheitern des europäischen Klimaschutzes. Und ein Angriff auf die deutschen Klimaziele, die der CDU sowieso ein Dorn im Auge sind.«
Sollte die EU ohne oder nur mit schwachen neue NDCs nach Brasilien zur Klimaschutzkonferenz reisen, wäre das in der Tat ein fatales Zeichen. Die COP30 krankt ohnehin an geopolitischen Grabenkämpfen, der Feindseligkeit der USA und einer immer lauteren Fossil-Lobby aus Ländern wie Saudi-Arabien oder Russland.
Wenn Sie mögen, informieren wir Sie einmal in der Woche über das Wichtigste zur Klimakrise – Storys, Forschungsergebnisse und die neuesten Entwicklungen zum größten Thema unserer Zeit. Zum Newsletter-Abo kommen Sie hier.
Die Themen der Woche
Umweltverbände kritisieren Vorhaben zur CO₂-Speicherung
Um das Klima zu schützen, plant Deutschland, unter der Nordsee Kohlendioxid zu speichern. Kritiker fürchten einen Missbrauch der Technologie, um weniger Emissionen sparen zu müssen.Warum Geoengineering das Polareis wohl nicht retten wird
In Rekordgeschwindigkeit schwindet das Eis in der Arktis und Antarktis. Forschende mahnen, sich nicht auf technische Lösungen wie Unterwasserbarrieren zu verlassen.»Eiskapelle« in Bayern infolge des Klimawandels eingestürzt
Die Klimakrise hat sich in den Berchtesgadener Alpen besonders gezeigt: Die berühmte »Eiskapelle« am Fuß der Watzmann-Ostwand ist eingestürzt, früher als von Forschern erwartet. Das bedeutet auch für Bergsteiger zusätzliche Gefahren.Klimawandel ist wohl maßgeblich für viele Hitzewellen verantwortlich
Die globale Erwärmung macht Hitzewellen wahrscheinlicher und extremer. Massiv dazu beigetragen haben Wissenschaftlern zufolge die Emissionen der fossilen Industrie, namentlich von Firmen wie Saudi Aramco, Gazprom und BP.Warum die Union das Verbrenner-Aus kippen will
Die Union will das Ende von Verbrennerautos herauszögern. Doch ein Plan der Kanzlerpartei ist nicht erkennbar. Ebenso wenig wie eine Strategie des Koalitionspartners SPD.Merz deutet langsameres Tempo bei der Energiewende an
Wie steht es um die Energiewende in Deutschland? Kanzler Friedrich Merz sagte nun, »dass wir im Ausbau etwas weniger machen können«. Kommende Woche soll es aus der CDU einen Bericht zum Thema geben.
Bleiben Sie zuversichtlich!
Ihre Susanne Götze
Redakteurin Wissenschaft
EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra: Mittlerweile ist Brüssel progressiver als viele Mitgliedstaaten
Foto: Dursun Aydemir / Anadolu Agency / IMAGOGrünen-Politiker Bloss im Europaparlament: »Der CDU sind Klimaziele ein Dorn im Auge«
Foto: Union Europeenne / Hans Lucas / picture allianceIn Europa wüten in diesem Jahr wieder Waldbrände: Beim Klimaschutz will sich die Union aber zurückziehen
Foto: Patricia de Melo Moreira / AFP