Die Haken im Balken, die Fliesen an Wand und auf dem Boden, der leere betonierte Raum und draußen die Gefängnismauern. »Unheimlich«, sagt meine 16-jährige Tochter, sei der Raum gewesen. Sie hat ihn schnell verlassen, gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die mitgekommen waren in den Hinrichtungsraum. Kurz haben sie nebenan die Ausstellung angeschaut, dann haben sie draußen, auf einer Bank vor der Gedenkstätte, auf mich gewartet. Es war der 8. September 2024. Genau achtzig Jahre zuvor war hier in Berlin-Plötzensee Elisabeth von Thadden von den Nationalsozialisten ermordet worden. Sie war die Schwester (genau gesagt: Halbschwester) meiner Mutter. Meine Tante. Die Großtante unserer Zwillingstöchter.
Meine Mutter hat meinen Geschwistern und mir viel von ihrer Schwester erzählt: Elisabeth von Thadden hatte 1943 in Berlin Widerstandskämpfer zu einer Teegesellschaft eingeladen, doch einer ihrer Gäste war ein Gestapo-Spitzel. Alle wurden verhaftet, meine Tante von Roland Freisler, dem berüchtigten Chefrichter des Volksgerichtshofs in Berlin, zum Tode verurteilt. Meine Mutter berichtete uns, dass ihre Schwester die letzten Lebenswochen mit auf den Rücken gefesselten Händen verbringen musste. Sie erzählte von ihrer Trauer, ihre Schwester nicht mehr besuchen zu dürfen, schilderte uns Elisabeths Gang zum Schafott. Für mich war das auch traumatisch, bis heute kann ich keine blutgetränkten TV-Serien ertragen. Ich meide die Besichtigung von Folterkammern in Burgmuseen und schaue weg, wenn Fotos von Hingerichteten gezeigt werden, weil ich die Bilder nicht mehr loswerde.
Wiederholt sich hier, dass ein Trauma von Generation zu Generation weitergegeben wird?
Als in der Unterstufe im Fach Religion über Gedenkorte gesprochen wurde, bin ich mit meiner Tochter zu den Tafeln für zwei von den Nationalsozialisten ermordeten französischen Widerstandskämpferinnen an einem Hamburger Untersuchungsgefängnis gegangen. Auch diese beiden Frauen starben durchs Fallbeil. Ich habe meiner Tochter von ihrer Großtante berichtet und mich gefragt, ob es angemessen ist, ihr etwas so Grausames zu erzählen. Und ob sich hier nicht wiederholt, was ich selbst erlebt habe: dass ein Trauma von Generation zu Generation weitergegeben wird. Genau so steht es nämlich in einem neuen Buch über Elisabeth von Thadden und die anderen aus dem NS-Widerstand, die von dem Gestapo-Spitzel verraten wurden: Die nächste Generation trägt die Erinnerung an diese Menschen weiter. Und mit dieser auch die Haltung, ihre Erfahrungen und Botschaften. »The Traitors Circle« (Verlag John Murray) heißt das mitreißende Buch, geschrieben von Jonathan Freedland, Kolumnist beim britischen »Guardian« und Bestsellerautor. Es ist am 10. September erschienen, auf den Tag genau 82 Jahre nach der Teegesellschaft, zu der Elisabeth von Thadden den Verräter Paul Reckzeh eingeladen hatte.
Ich war bei der kleinen Premierenparty für »The Traitors Circle« in einer geschichtsbeladenen Londoner Buchhandlung, weil unsere Familie bei der Recherche für das Buch ein wenig helfen konnte. Und ich habe mich wieder gefragt, welche Botschaften und Erfahrungen eigentlich ich unseren Zwillingstöchtern vermittelt habe. Dass Zivilcourage wichtig ist für unser Land, klar. Aber gab es auch unbewusste Botschaften, die Angst vor Gewaltdarstellungen zum Beispiel? Und was eigentlich sollen und wollen und dürfen wir an die nächste Generation vermitteln – und was besser nicht? Soll ich unsere Töchter davon abhalten, brutale Filme ab 16 anzuschauen, weil ich sie nicht ertrage? Oder würden sie mit Freunden gemeinsam im Kino sitzen und gar kein Problem haben, wenn die scharfen Klingen gezogen werden, weil es für sie nur Fiktion ist und nicht verbunden mit der Vorstellung des Fallbeils in Plötzensee?
Ich bin überzeugt: Was wir denken, fühlen, tun hat eine Wirkung auf unsere Kinder, ob bewusst oder nicht, und diese Wirkung haben wir letztlich nicht in der Hand. Eine Bekannte hat mir erzählt, dass ihre Tochter eine beste Freundin hatte. Sie haben einander besucht, sie haben sich alles erzählt und viel Zeit zusammen verbracht, wie das eben so ist mit »Besties«. Bis plötzlich klar wurde, dass die Eltern des Mädchens politische Ansichten hatten, die unvereinbar waren mit den Vorstellungen meiner Bekannten. Der Vater des Mädchens ist AfD-Funktionär. Es kam zu einem Telefonat zwischen den Müttern, das ungut verlief, eskalierte – und dann wurde die Tochter meiner Bekannten nie wieder eingeladen.
Nun fragt sich meine Bekannte: »Habe ich mit meiner Haltung zur AfD das Leben meiner Tochter komplizierter gemacht? Denn sie wurde für meine Haltung abgestraft. Und ist es richtig, meine politische Ansicht so zu vertreten, wenn meine Tochter die Konsequenzen daraus tragen muss?« Die Tochter sagt jedenfalls, die Situation sei »schwierig« für sie gewesen.
Denken Sie auch darüber nach, welche Botschaften Sie Ihren Kindern mitgeben? Ich freue mich, wenn Sie mir Ihre Erfahrungen und Überlegungen schildern: familiennewsletter@.de
Meine Lesetipps
Kindern zu zeigen, dass man sich für sie engagiert – das ist auf jeden Fall gut und richtig. Der Social Design Award, den SPIEGEL Wissen und das Handelsunternehmen Bauhaus vergeben, hat in diesem Jahr das Motto »Unsere Kinder, unsere Zukunft«. Die Jury hat die Einsendungen gesichtet und daraus eine Shortlist der zehn besten Projekte zusammengestellt. Ich finde es eindrucksvoll, wie viel Energie, Zeit, Leidenschaft diese Erwachsenen in ihr Engagement stecken. Schon deshalb hätte eigentlich jedes Projekt einen Preis verdient. Aber nur eines kann den Publikumspreis gewinnen, über den Sie hier abstimmen können.
Um noch mal auf meine Familie mütterlicherseits zurückzukommen: Mein Großvater war verheiratet, hatte fünf Kinder, verwitwete und heiratete dann eine mehr als 37 Jahre jüngere Frau, mit der er sechs Kinder hatte, darunter meine Mutter. Das summierte sich zu einer riesigen Familie und einer Generationenverschiebung, sodass meine (Halb-)Cousins und Cousinen eine Generation älter sind als ich. Wenn es bei Ihnen auch so ein Verwandtschaftswirrwarr gibt, dann empfehle ich zur Klärung den Text meines Kollegen Frank Patalong.
In der Schule unserer Töchter haben neuerdings alle im Jahrgang ein Tablet, weil der Unterricht digitalisiert wird und alle gleiche Bedingungen haben sollen. Manchmal heißt Digitalisierung, dass Buchseiten fotografiert werden. In Zukunft kann es aber auch heißen, dass die im Textverarbeitungsprogramm, das alle verwenden, integrierte künstliche Intelligenz Vorschläge zur Verbesserung der Hausaufgaben macht. Rechnen kann die KI selbstverständlich auch. Was das für Eltern bedeutet, erklärt die Autorin und Social-Media-Expertin Leonie Lutz im Interview : Nicht nur die Lehrkräfte, auch die Eltern sollten bei der KI-Nutzung von Anfang an Regeln aufstellen. Übrigens kann die KI auch KI-generierte Texte identifizieren. Das wissen auch die Lehrkräfte.
Gehören Sie zu den Menschen, die bei Stress nicht einschlafen können oder viel zu früh aufwachen und sich zunehmend hoffnungslos im Bett herumwälzen? Dann kann Ihnen das neue kostenlose Trainingsprogramm »Gut schlafen« von SPIEGEL Coaching helfen. Den ersten Schritt finden Sie hier , und wenn Sie sich hier dafür anmelden, erhalten die weiteren sieben Schritte freitags per Mail. Damit Sie Ihre Schlafgewohnheiten besser einordnen können, gibt es auch einen Selbsttest.
Das jüngste Gericht
Pfannkuchen. Früher gehörten die zu den Lieblingsgerichten unserer Zwillingstöchter, mit Apfelmus oder mit Vanillesoße. Später wurde noch die Variante des Kaiserschmarrn gegessen und heute nur gelegentlich ein Pfannkuchen mit Blaubeeren. Ich aber liebe Pfannkuchen, schon immer und vermutlich auch für immer. Vielleicht mache ich also einfach mal Galettes, die französische Variante, in dieser Version, die etwas anspruchsvoller ist als Pfannkuchen mit Apfelmus aus dem Glas.
Mein Moment
Mein Kollege Malte Müller-Michaelis hat darüber geschrieben, wie schwierig für ihn das frühe Aufstehen ist, zu dem ihn der Schulbeginn seines Sohnes zwingt. Das kann ich so gut verstehen! Und es ist nun Morgen für Morgen etwas dunkler! Bei uns schleppt sich selbst der Hund um 6.45 Uhr von seinem Schlafplatz nur zu einer kurzen freundlichen Morgenbegrüßung, um dann sehr gern noch ein verlängertes Morgenschläfchen zu halten – im Gegensatz zu allen anderen. Auch Lehrern fällt das frühe Aufstehen schwer:
»Ich war Lehrer und habe den Unterrichtsbeginn um 8.00 Uhr gehasst. Um einigermaßen ruhig in den Tag zu kommen, musste ich zu 5.00 Uhr den Wecker stellen. In den letzten Monaten vor meiner Verrentung mit 66 Jahren und 7 Monaten habe ich gedacht, dass ich die Zeit bis zu den Sommerferien nicht mehr schaffe. Jetzt unterrichte ich reduziert und nicht vor 9.50 Uhr. Ein Traum!«
Herzlich,
Ihre Marianne Wellershoff
Gedenken an die in Plötzensee Hingerichteten
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