Rabimmel, rabammel, rabumm

Vor elf Jahren war ich mit dem Fahrrad auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als ich bremsen musste. Vor mir war die Straße gesperrt. Ein Spielmannszug marschierte entlang, hinter ihm stolperten kleine Kinder. Sie hielten Papierlaternen, die in der Dunkelheit leuchteten.

Ich stieg vom Rad. Mir war flau, ich war erschöpft und wollte nach Hause. Dass die Übelkeit von den zwei Strichen auf dem Schwangerschaftstest herrührte, den ich wenige Tage zuvor gemacht hatte, wusste außer mir und dem werdenden Vater zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Ich stand in der Dunkelheit und blickte auf die vorbeiziehenden Kinder in ihren dicken Jacken und Gummistiefeln und plötzlich wurde mir klar: Bald bin ich Teil davon. Ich werde Mutter und werde einen Kalender besitzen, in dem Termine für Laternenumzüge stehen.

Heute stehen gleich mehrere Umzüge in meinem Kalender

Bis dahin war der wachsende Embryo eine vage Vorstellung gewesen. Ich war damit beschäftigt gewesen, Arzttermine zu vereinbaren und meine Gefühle zu ordnen: die Überraschung, die Freude, die Sorge und das Abfinden mit allen Plänen, die sich nun ändern würden. Plötzlich wurde die ganze Sache real. So wird es aussehen, mein Leben, dachte ich. Rote Backen und Kinderlieder und eine kleine Hand in meiner, wenn ich durch die Straßen gehen werde.

Es kam genau so und ganz anders. Heute bin ich dreifache Mutter, und in meinem Kalender stehen gleich mehrere Laternenumzüge. Einen in der Kita, einen in der Grundschule und den des Nachbarschaftsvereins durch das Viertel. Meine Vorstellung von dem glücklichen Kind und mir im Schein der Laterne wird jährlich im November mit der Realität abgeglichen.

Beim Laternenbasteln mit einem Zweijährigen müssen selbst die Gelassensten tief durchatmen, und ich nicke den Eltern anerkennend zu, die sich auf das Paw-Patrol-Teil aus dem Supermarkt geeinigt haben. Bei jedem Lauf weint mindestens ein Kind, ein weiteres mag nicht mehr weitergehen. Zwischendurch muss immer mal jemand aufs Klo, denkbar ungünstig am Straßenrand, mit der Gefahr, die Karawane vor sich zu verlieren. Die Eltern singen immer lauter als die Kinder. Kaum jemand weiß, wie die dritte Strophe von »Ich geh’ mit meiner Laterne« geht. Die Batterien der Leuchtstäbe versagen. Und ich bin sicher nicht die Einzige, deren kleine Kinder um 17.30 Uhr im Buggy eingeschlafen sind und dann bis Mitternacht hellwach waren.

Teelichter in Laternen aus Pergamentpapier – magisch

Ich erinnere mich noch an die Umzüge aus meiner Kindheit und an Weckmänner aus Hefeteig, die in Süddeutschland am Martinstag am Kirchentor verteilt wurden. Wir trugen Teelichter in Laternen aus Pergamentpapier, und auf jedem Lauf ging mindestens eine in Flammen auf. Das Kind weinte, ein Vater trat das Feuer aus. Trotzdem oder deshalb: Es war magisch.

Die zwei Striche auf dem Schwangerschaftstest sind heute zehn Jahre alt und diskutieren mit einem Arbeitsblatt aus der Schule in der Hand mit mir über den Heiligen, der dem Tag seinen Namen gab. »Ich verstehe nicht, warum er nur seinen halben Mantel gegeben hat, hatte jetzt da jeder nur einen Ärmel?«, kommentiert meine Tochter die Geschichte aus dem Religionsunterricht. »Er hätte den Bettler auch mitnehmen können, auf einem Pferd ist doch locker Platz für zwei.« »Und wieso sind der Heilige Martin, Nikolaus und der Weihnachtsmann eigentlich alle Männer?« Ihr siebenjähriger Bruder ergänzt: »Wahrscheinlich sind die Brüder.«

Der Tag hat seine Schwächen. Er ist anders, als ich ihn mir vorgestellt habe, und viel besser, als ich ihn mir hätte ausmalen können – wie so vieles im Elterndasein. Dass die unperfekten Momente in der Summe die Perfektion ausmachen, wusste ich damals noch nicht. Diesen November werde ich wieder Kinder an der Hand halten und wie jedes Jahr an den Abend vor elf Jahren denken.

Welche Erinnerungen haben Sie an den Martinstag und die Laternenumzüge? Welche Traditionen gibt es in Ihrer Region? Schreiben Sie an familiennewsletter@.de .

Buchtipp der Woche

Anton freut sich auf den Laternenumzug im Kindergarten – aber alles geht schief. Sein Vater kommt zu spät zum Basteln, die Laterne wird ein Monstrum, dann klemmt Papa sie in der Autotür ein. Beim Umzug fällt sie in eine Pfütze. Doch dann hilft ein fremder Mann: Er schenkt Anton eine Laterne aus einer alten Dose. Der Mann stellt sich als Martin vor. »Die schönste Laterne der Welt« von Johanna Lindemann ist anders als viele Bücher, die die Geschichte des Heiligen nacherzählen. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger geht es um Armut und das schöne Gefühl, das Teilen mit sich bringt.

Meine Lesetipps

  • »Dass man Kind und Karriere wunderbar vereinen kann, davon war ich sehr lange überzeugt. Allerdings war das zu einer Zeit, als ich selbst gar keine Kinder hatte«  schreibt Fatma Mittler-Solak. Sie hat jahrelang mit drei Kindern in Vollzeit gearbeitet. Jetzt sind die Kinder in der Pubertät, stellen große, teils beängstigende Fragen und brauchen sie anders – nicht zum Basteln, sondern zum Reden und Einordnen. Deshalb arbeitet sie nun weniger. Ihr Gedanke: lieber jetzt da sein.

  • Ich bin Vielleserin, merke aber auch, dass ich mir die Zeit für Bücher häufig vom Handy stehlen lasse. Damit bin ich nicht die Einzige: Viele Menschen wollen mehr lesen, landen aber beim Smartphone oder TV – laut Statistik kommen Bücher im Schnitt nur auf zwölf Minuten pro Tag, Fernsehen auf über zwei Stunden. Bookfluencer Tobias Milbrandt rät, ehrlich zu prüfen, warum man nicht liest. Fehlt wirklich Zeit oder ist es Gewohnheit und Ablenkung? Sein einfacher Einstieg: jeden Tag nur ein bis zwei Seiten vornehmen – die niedrige Hürde hilft, und oft liest man dann weiter, wenn das Buch Spaß macht. Im Podcast »Smarter leben« gibt er weitere Tipps, wie man Lust fürs Lesen zurückgewinnt.

  • Aufklärung schützt zwar nicht automatisch vor sexualisierter Gewalt, aber sie macht Kinder sprachfähig: Sie können ihren Körper und ihre Gefühle benennen und trauen sich, Hilfe zu suchen. Bis zur Einschulung sollten sie wissen, wie Babys entstehen, wo ihre Grenzen liegen und dass Sex Sache von Erwachsenen ist. Meine Kollegin Annika Schultz hat mit Steffi Bohle und Carsten Müller gesprochen, beide ausgebildete Sexualpädagogen und Fachkräfte für Gewaltprävention.  Sie erklären, wie man mit Kindern vertrauensvoll sprechen sollte.

  • Die Assistenzärztin Ida Hüners wird am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zur Kinder-Herzchirurgin ausgebildet. Sie operiert Babys und Kinder mit angeborenen Herzfehlern – an langen, fordernden Tagen, an denen sie große Verantwortung trägt. Meine Kollegin Claudia Beckschebe hat sie bei einem OP-Tag begleitet  und für das Kindermagazin DEIN SPIEGEL aufgeschrieben, was bei und nach einer Operation passiert.

Mein Moment

Vor Kurzem schrieb ich über die Einschulung meines Sohnes und die Sorgen, die man sich bei jedem neuen Anfang macht. Leser Jan Kröger gab daraufhin folgenden Tipp:

»Aus meiner Erfahrung ist die innere Haltung der Eltern ein entscheidender Schlüssel für einen gelungenen Schulanfang. Wenn Sie der neuen Situation – der Schule, der Lehrerin oder dem Lehrer – mit Zuversicht, Vertrauen, Neugier und Offenheit begegnen, spüren die Kinder dies und können sich viel leichter auf den neuen Lebensabschnitt einlassen.«

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Herzlich
Ihre Antonia Bauer

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