Ich bin nicht sicher, ob Geduld jemals zu den gesamtgesellschaftlichen Tugenden in Deutschland zählte oder nicht. In den Kanon gediegener bürgerlicher Eigenschaften gehört sie für meinen Geschmack in jedem Fall, und darum nimmt es nicht Wunder, dass in einer Gesellschaft, die sich aus allerlei Gründen gerade milieuweise entbürgerlicht, Ungeduld ein stilprägendes Zeichen der Zeit ist. Leider machen Politik und die Gruppen, die sie umgeben, dabei nach Kräften mit. Das könnte uns teuer zu stehen kommen.
Klingt das kulturpessimistisch? Vielleicht. Aber kann mir bitte jemand erklären, warum, wenn nicht aus ungeduldigem Bauchimpuls, der Bundeskanzler seine Autorität und seine Koalition Ende vergangener Woche aufs Spiel gesetzt hat, indem er die »Kanzlermehrheit« für den Rentenbeschluss des Bundestags forderte? Friedrich Merz hat gezockt und gewonnen beim Poker um das Rentenpaket . Das kann man als »bold move« bewundern, als »Cojones« und so weiter. Man kann es aber auch als Mutprobe oder als atemberaubenden Unernst lesen, als Kotau vor dem eigenen Drängen und jenem anderer, die endlich einmal »Durchgreifen« sehen wollen.
Gewiss, bei den Mehrheiten geht es immer auch um die Autorität eines Kanzlers, ohne die er auch in den Sachfragen nicht den Kurs vorgeben kann. Ich bin ja nicht naiv. Ebenso wird in solchen Momenten die Eignung eines Fraktionschefs geprüft, dem seine Leute am Ende folgen oder eben nicht. Das ist keine Kleinigkeit. Aber man sollte das trotzdem ein wenig weiterdenken: Die Fokussierung auf das »Wie« und weniger auf das »Was« begünstigt auf Dauer jene Parteien, die kein »Was« haben, keinen beschreibbaren Inhalt. Wir reden unter anderem von der AfD.
Im Rentenstreit war es mit Händen zu greifen: Die AfD profitierte von der ungeduldigen Fokussierung auf die »eigene« Mehrheit oder die »Kanzlermehrheit«. Ein Beispiel: So brauchte Parteichefin Weidel einem überforderten Kollegen bei Welt TV gar nicht mehr zu erklären, wie die AfD ihren Rentenplan von »70 Prozent« finanzieren will. Sie musste nicht sagen, wie viele zig Milliarden an Steuermitteln das kosten würde und wo das Geld für ihren großen Kapitalstock kommen soll, dessen Zinserträge neben die gesetzliche Rente treten sollen. Und sie muss nicht einmal ihren Wahlkampfhit erklären, wonach in Österreich (rechnerisch) im Durchschnitt so viel höhere Rentenbeträge herauskommen, weil die »Altparteien« in Deutschland einfach nur zu blöd sind. In Wahrheit gibt es in Österreich anders als in Deutschland kleine Renten von unter 15 Beitragsjahren gar nicht. Und das erhöht den Rentendurchschnitt maßgeblich.
Wider Willen hat der Kanzler also der AfD ein Freispiel auf eigenem Platz ermöglicht. Und er hat durch das große Risiko des Manövers mit der Kanzlermehrheit jenen Gruppen eine Vorlage geliefert, die sich seit Regierungsantritt im Geraune um Neuwahlen, Minderheitsregierung oder gar eine schwarz-blaue Koalition suhlen. Deren Trommelfeuer gegen die Brandmauer belegt eine verstörende Mischung aus elitärem Untergangskitzel und betriebswirtschaftlicher Disruptionstheorie. Manche Milliardäre mögen das. Dieses Mal fehlten nur drei Neinstimmen, und sie wären ihrem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.
Hinzu treten bestimmte traditionelle CDU-Milieus, die nur noch wollen, dass »es knallt«, schrieb der »Focus« neulich. Sie sehen die deutsche Wirtschaft »im freien Fall«, wie der BDI-Chef sagt. Daraus spricht, noch einmal, eine Ungeduld »der Wirtschaft«, die toxisch ist: Zum einen lenkt sie von den eigenen Versäumnissen der Vergangenheit füglich ab: Wenn »die Politik« gegenwärtig allein für den Weg aus der Misere verantwortlich ist, kann »die Wirtschaft« zuvor ja nicht viel falsch gemacht haben. Zum anderen zieht es überfallartig eine Erwartungsdringlichkeit auf, der keine Politik genügen kann, es sei denn, sie wäre autoritär. Ist es das, was diese Leute wollen – quasiautoritäre Politik, die mal so richtig »knallt«? Solcherart geschürte Ungeduld wäre eine kaum verhohlene Attacke auf die Demokratie.
Nun muss man leider sagen, dass der Bundeskanzler an dieser Grube selbst mitschaufelt. In einer Umfrage für RTL/n-tv nennen die Befragten als Gründe für den Vertrauensverlust in ihn am häufigsten die »gebrochenen Wahlversprechen« und die »enttäuschten Erwartungen«. Auch wenn es weniger gravierend klingt, ist doch Letzteres das Schlimmere: Weil man es so leicht hätte aus eigener Kraft und Vernunft vermeiden können. »Links ist vorbei!«, Stimmungswende bis zum Sommer, »Herbst der Reformen« und schließlich »Kanzlermehrheit«. Aus Unduldsamkeit hat Friedrich Merz de facto eine Vertrauensfrage gestellt. Oft kann man das nicht machen, von der Menge bösen Blutes, das es schafft, gar nicht zu reden.
Was hat dem Bundeskanzler dieses Muster gebracht außer schlechten Umfragewerten? Ein ums andere Mal: nichts. Mehr noch: Sinnvolle Beschlüsse wie der zur Wehrpflicht treten in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung. Warum hat er es dann wieder und wieder gemacht? Man weiß es nicht. Angela Merkel wird darüber fein lächeln: Sie war eine Meisterin des Erwartungsmanagements. Friedrich Merz ist darin, Entschuldigung, bislang ein Anfänger.