Schnee im November ist nun wirklich nichts, das überraschend kommt. Gleichwohl bahnt sich derzeit eine durchaus bemerkenswerte Wetterlage an: eine sogenannte Plötzliche Stratosphärenerwärmung. Der Ausdruck ist etwas irreführend, denn tatsächlich wird es dadurch nicht etwa wärmer, sondern kälter. Experten erwarten in den kommenden Wochen vielerorts einen heftigen Wintereinbruch, vor allem in Nordamerika, womöglich auch in Europa.
Wie funktioniert das Ganze? Entscheidend für das Phänomen sind stratosphärische Polarwirbel. Dabei handelt es sich, wie der Deutsche Wetterdienst (DWD) erklärt, um »großräumige Zirkulationssysteme«, die sich in den Wintermonaten über dem Nord- beziehungsweise Südpol in etwa zehn bis 50 Kilometer Höhe ausbilden. »Sie entstehen im Herbst aufgrund der abnehmenden Sonneneinstrahlung und sind mit starken westlichen Winden verbunden«, so der DWD.
Meist sind diese Polarwirbel stabil, allerdings können sie durch kurzzeitige Ereignisse ins Wanken geraten – mit Folgen für unser hiesiges Wetter. Eines dieser Ereignisse ist die Plötzliche Stratosphärenerwärmung, auf Englisch »sudden stratospheric warming« (SSW). Dabei handelt es sich um eine »rasche Erwärmung der polaren Stratosphäre, die zu einer Umkehr der vorherrschenden Westwinde in Ostwinde führt. Der Polarwirbel wird dabei stark abgeschwächt und kann entweder stark vom Pol verdrängt oder in zwei kleinere Zentren aufgespalten werden«, erklärt der DWD.
Infolgedessen kann es »zeitversetzt über mehrere Wochen hinweg zu häufigen Kaltlufteinbrüchen in die mittleren Breiten, vor allem Nordamerika und Eurasien, kommen«, heißt es vom DWD weiter. Und genau das passiert offenbar gerade: Der nördliche Polarwirbel, ein Ring aus eisiger, stürmischer Luft, der sich über dem Nordpol befindet, wird allem Anschein nach gestört von einer SSW.
Die Konsequenz: Arktische Luft wird in Richtung Süden gedrängt und sorgt dort für eisige Temperaturen. Erwartet wird Dauerfrost mit Temperaturen teilweise im zweistelligen Minusbereich, dazu wahrscheinlich auch eine signifikante Menge Schnee. »Die aktuelle Prognose lässt vermuten, dass der Norden der USA und der Süden Kanadas am stärksten betroffen sein werden«, schreibt der »Washington Post «-Meteorologe Ben Noll.
Aber auch bei uns in Europa könnte die Entwicklung Folgen haben: »Falls es zu einem SSW kommt, kann eine Folge sein, dass Mitteleuropa und damit auch Deutschland eher in einen Bereich von Ostwinden gelangt. Das kann zu einer Zunahme an kalten Witterungslagen führen«, teilt der DWD auf SPIEGEL-Anfrage mit.
Allerdings: Eine SSW führt nicht automatisch immer zu einer kälteren Wetterlage in Deutschland, schränkt der DWD ein. Sie erhöht aber die Wahrscheinlichkeit deutlich.
Kaltfront reicht womöglich bis in den Dezember hinein
Hinsichtlich des zeitlichen Horizonts gehen Noll und andere Experten davon aus, dass die aktuellen Entwicklungen von Ende November bis in den Dezember hinein das Wetter auf der Nordhalbkugel beeinflussen dürften. Der Grund: »Stratosphärische Erwärmungsereignisse vollziehen sich langsam, wundern Sie sich also nicht, wenn es etwas länger dauert, bis Sie die Auswirkungen spüren, und wenn sie länger anhalten, als Sie vielleicht erwarten – möglicherweise bis ins neue Jahr hinein«, erklärt Noll.
Laut ihm könnte sich der Effekt im Dezember noch verstärken, wenn sich ein Hochdruckgebiet über Russland festsetzt. »Das sieht nicht gut aus«, kommentierte der ZDF-Meteorologe Özden Terli.
Derweil sind SSW-Ereignisse im Winter nicht ungewöhnlich. Im Schnitt gibt es sie alle zwei Jahre, meist im Januar oder Februar. Noll erklärt: »Das liegt daran, dass sich der Polarwirbel im Spätherbst und Frühwinter noch in der Entstehungsphase befindet und daher weniger anfällig für Erwärmungsereignisse ist.«
Dass ein SSW schon im November auftritt, wie es derzeit vorausgesagt wird, ist extrem selten. Seit den Fünfzigerjahren habe es laut Noll nur ein einziges Mal ein solches Ereignis gegeben, nämlich im November 1958. Und dieses Mal könnte das SSW sogar noch früher im November stattfinden als damals; es wäre damit das früheste seit Beginn der Aufzeichnungen. Noll dazu: »Das wird eine interessante Reise.«