Die Hänsel-und-Gretel-Frage

Plötzlich ging sie in die Hocke und berührte mit der Hand den Boden. Es war ein windiger, kalter Tag, und eigentlich wollten wir nur schnell eine Runde um den Block drehen.

»Was ist?«, fragte ich meine Tochter, die auf dem Bürgersteig kniete. Ein bisschen ungeduldig klang meine Stimme, es dämmerte, ich fror und dachte an Hundehaufen. »Halt, Mama!«, wisperte meine Tochter zu meinen Füßen. »Spur!« Und dann rannte sie plötzlich los und rief aufgeregt: »Kleiner Donner!«

Das Pony des kleinen Jungen Yakari – eine Zeichentrickfigur, die gerade ihr Lieblingsheld ist – war in der letzten Folge verschwunden. So viel hatte ich mit halbem Auge im Wohnzimmer mitbekommen. Und nun wollte sie suchen helfen, draußen in der Wildnis vor unserer Tür. Ich musste lachen, was meine Tochter gar nicht komisch fand.

Yakari ist mir zumindest lieber als Heidi. Heidi ist nämlich härter, als man denkt. Heimweh, Streit, Eifersucht, im Keller eingesperrte Kinder, tote Mütter. Manchmal seufzt meine Tochter mit Downsyndrom laut, wenn sie eine Folge schaut. »Aufregend«, sagt sie hinterher.

Trotzdem oder gerade deswegen übt Heidi einen gewissen Sog auf sie aus. Ich bin mir unschlüssig, ob ich Heidi unterbinden soll. Ich habe mich fürs Dosieren und Darüber-Reden entschieden. Ganz möchte ich Heidi nicht verbannen, denn ich weiß nicht, ob es so heilsam ist, sich immer nur in der heilen Conni-Welt zu bewegen. Das echte Leben kennt ja auch große und dunkle Gefühle.

Andererseits gibt es immer wieder Szenen, die mir einen Stich ins Herz versetzen. Wenn meine Tochter mit Clara spricht, Heidis Freundin im Rollstuhl, und ihr die Freundschaft anbietet. Wenn das gar nicht mehr aufhört und sie den ganzen Tag murmelt: Lara, Lara. Weil ihr der »K-Laut« so schwerfällt.

Früher hat es mich betroffen gemacht, wenn meine Tochter auch eine Julia wollte, eine allerbeste Freundin, so wie Conni aus dem Bilderbuch. Mittlerweile, zum Glück, ist meine Tochter Teil einer Schulclique, wird morgens von ihren Klassenkameraden umarmt, hat echte Freundschaften. Mittlerweile kommt es mir nicht mehr grausam vor, wenn ich ihr sage: Das ist nur eine Geschichte. Das ist nur ein Film. Clara kann nicht zur Übernachtungsparty kommen.

Aber ich bin mir nicht sicher, ob unsere Tochter mit Downsyndrom, die mittlerweile zehn Jahre alt ist, wirklich auseinanderhalten kann, was Wirklichkeit ist und was Fiktion. Fest steht, dass sie – so wie alle Kinder – gern in Fantasiewelten eintaucht.

Nur, dass ihre Vorstellungen ganz reale Konsequenzen haben. Wenn sie auf dem Weg zur Haustür ist, um allein zum Supermarkt zu laufen. Wenn sie imaginäre Telefonate führt und hinterher steif und fest behauptet, alle Verabredungen seien bereits getroffen. Weshalb mein Mann kein Freund von Hänsel und Gretel ist, genauer gesagt, von der bösen Hexe, die einen kleinen Jungen im Ofen braten will. Was, wenn unsere Tochter das Märchen für wahr hält?

Neulich wurde ich von einer Betreuungsperson angesprochen, ob es bei uns »familiäre Veränderungen« gegeben habe. Unsere Tochter habe erzählt, dass sie verreisen würde. Allein. Mit dem Zug. In eine andere Stadt. Und dass es dort auch Spielsachen gäbe. Zum Glück konnte ich glaubhaft dementieren.

Ich kann mir schon vorstellen, wie unsere Tochter gut gelaunt, aber bruchstückhaft erklärt hat, sie würde jetzt Koffer packen. So wie ich, wenn ich auf Dienstreise gehe. Sie liebt es im Moment, alles zu befüllen, was sich befüllen lässt. Und wunderbarerweise füllt sie mittlerweile auch selbst ihre Zeit, sogar mal eine ganze Stunde lang.

Neulich hat sie alle Bücher ins Bad geräumt, um es sich dort gemütlich zu machen. Ein anderes Mal hat sie alle ihre Stofftiere mit einem Kleenextuch zugedeckt und ins Bett gebracht. Manchmal legt sie sich für alle Wochentage die Kleidung raus, von den Strümpfen bis zum Pulli.

Neu ist auch, dass sie sich jeden Abend einen Traum vornimmt. Von der Wasserrutsche. Von der Schule. Vom Zahnarzt. Was mich beruhigt: Sie mag nicht nur ihren Zahnarzt. Neulich, als wir bei einem Schulfreund zu Gast waren, erklärte sie, von ihm wolle sie träumen. Und ich dachte nur: Wie schön, dass sie nicht Clara gesagt hat.

Im Vergnügungspark haben wir übrigens eine Hexe kennengelernt, eine liebe, die mit unserer Tochter lustige Fotos gemacht hat. Als wir uns verabschiedeten, rief unsere Tochter der Frau hinterher: »Bis morgen, Hexe!«

Welche fantastischen Geschichten Ihrer Kinder sind Ihnen in Erinnerung geblieben? Und was halten Sie von Märchen? Schreiben Sie mir gern an familiennewsletter@.de  

Meine Lesetipps

Wenn Sie bei frostigem Herbstwetter eine Märchenstunde für Erwachsene abhalten wollen, können Sie im SPIEGEL-Archiv nachlesen, wie kraftvoll die deutsche Sprache  ist – bei »Aschenputtel«. Was die Arbeit der Brüder Grimm  mit Identitätssuche zu tun hat. Oder warum ein Germanistikprofessor Märchen verteidigt, auch wenn es in den alten Geschichten oft gewaltvoll zugeht . Mein Kollege Hauke Goos schreibt in seiner Deutschkolumne über Hänsel und Gretel  übrigens folgende einprägsame Sätze: »Märchen, das weiß man inzwischen, verkleiden Urängste. Im Gewand einer Kindergeschichte thematisieren sie Tabus und Grausamkeiten der Menschheitsgeschichte.«

Keine Geschichte ohne Konflikt, kein Leben ohne Streit – wenn Sie mehr erfahren wollen über Lösungsstrategien, passende Sätze bei schwierigen Gesprächen und einen guten Kompromiss, empfehle ich Ihnen unser aktuelles SPIEGEL-WISSEN-Heft zum Thema »Konflikte lösen«.

Mit Humor geht vieles leichter, weil er uns anders auf Probleme blicken lässt. Starten Sie also mit einem kurzen Leitfaden für den Konfliktfall  von A wie Ausgrenzung bis Z wie Zorn. Auch der Text des Kabarettisten und Pädagogen Matthias Jung macht in jedem Fall gute Laune: Wenn Eltern sich schreiend auf den Boden werfen wollen . Das Foto zum Text sagt bereits alles, oder?

Welchen Wert Geschichten für unsere Kinder haben und wie wunderbar sie Außenwelt und Innenwelt miteinander verknüpfen – darum geht es in dieser nicht minder wunderbaren Elternkolumne von Julius Fischer: »Mann, Papa, heul mal leiser!«  Wobei ich beim Lesen lächelnd feststellte: Unsere Töchter haben dieselbe Angewohnheit. Und wenn Sie Geschichten genauso lieben wie Julius, wird Ihnen dieses Quiz sicherlich leichtfallen: Wie gut kennen Sie Findus, Frederick und Co.?

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein Interview  ans Herz legen, das meine Kollegin Heike Klovert anlässlich des Todes der Kessler-Zwillinge geführt hat. Sie hat die Expertin Ilka Poth gefragt, worauf Eltern von Zwillingen bei der Erziehung achten sollen. Denn einfach ist diese besondere Verbindung zwischen Geschwistern nicht. Poth sagt: »Zwillinge haben zwei Identitäten, eine gemeinsame und eine individuelle. Als Kinder verstehen sie sich selbst oft als eine Einheit. In der Pubertät steht ihnen dann ein doppelter Abnabelungsprozess bevor: von den Eltern und von ihrem Zwilling.« Und dieser gelingt nicht immer.

Das jüngste Gericht

»Sind Rosinen nicht einfach Rosinen?«, fragt meine Kollegin Maren Keller die Stollenbäckerin Kreutzkamm-Aumüller  und ahnt vermutlich, dass die Antwort kompliziert ist. Kompliziert darf man auch den gesamten Backvorgang nennen, aber das Leben ist nun mal nicht pflegeleicht. Für heute merken Sie sich bitte: Ein Stollen muss mindestens zwei Wochen durchziehen. Wenn Sie in nächster Zeit Freunde zu sich nach Hause einladen, helfen Ihnen vielleicht diese Tipps.  Was ich beruhigend fand, so steht es dort geschrieben: »Sie können ein miserabler Koch sein und dennoch ein hervorragender Gastgeber.«

Mein Moment

Als ich das letzte Mal über die Einzelteile des Lebens nachdachte, die unsere Tage zu guten Tagen werden lassen, schrieb mir ein Leser: »Seit nunmehr 3,5 Jahren bin ich alleinerziehend, wobei ich dieses Wort nicht ganz passend finde, denn meine Jungs sehen ihre Mutter noch regelmäßig (…) Beim Lesen des Newsletters habe er an vieles denken müssen: »Daran, wie sehr sich meine Jungs lieben und sich brauchen. Wie gut sie die Trennung trotz allem überstanden haben (...) Dass sie dieses tiefe Vertrauen zu mir haben und mir immer noch mitteilen, wenn die Trennung sie traurig macht. Mein Großer kuschelt zwar nicht gerne, zumindest mit mir nicht, aber ab und an setzt er sich zu mir auf die Couch, nimmt dann meine Hand und hält sie sich auf dem Kopf. Das ist zwar irgendwie merkwürdig, aber auch schön (...) Mein Kleiner ist ein sehr emotionaler und empathischer Mensch (...) Hinzu kommt sein unbändiges und mitreißendes Lachen. Wenn der einmal anfängt, ist auch bei mir kein Halten mir. Ja, es sind doch immer die kleinen Dinge, die einem bei aller Erschöpfung (...) die Freude und das Glück bereiten!«

In diesem Sinne:

Herzlich
Ihre
Sandra Schulz

Verwandlungskünstlerin mit Downsyndrom: 1000 Ideen im Kopf

Foto: Jamie Grill Atlas / Stocksy

Kinderzimmer unserer Tochter: »Gute Nacht, Freunde!«

Foto: Sandra Schulz / DER SPIEGEL

Merksatz: »Gut zu wissen, dass unsere Kinder bei einem Streit nichts gegen uns tun, sondern viel für sich.«

Foto:

Murat Aslan

Verwandte Artikel

Next Post