Die Tränen des Kanzlers

Nicht nur ein Wüterich

Manchmal wird Friedrich Merz vorgeworfen, er habe sich nicht im Griff. Häufig, auch im SPIEGEL, wurde beschrieben, wie Merz andere anblafft, sie heruntermacht, sich lauthals ärgert, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er sie gern hätte. Da konnte man sich schon fragen, ob so eine überbordende Emotionalität eine gute Eigenschaft ist für einen Bundeskanzler, der doch einzig die Interessen des Landes im Auge haben und kühl verhandeln sollte, auch und gerade mit schwierigen Gegenübern.

Den Gefühlsmenschen Merz gibt es nicht nur als Wüterich. Bei der gestrigen Wiedereröffnung der Münchner Synagoge in der Reichenbachstraße, die bei den Novemberpogromen 1938 stark beschädigt worden war, zeigte der Kanzler eine ganz andere Seite: Als er vor versammelter Festgemeinde von der Unmenschlichkeit der Schoa sprach, brach Friedrich Merz die Stimme, teilweise sprach er schluchzend. Der Bundeskanzler kämpfte mit den Tränen. Dieser Gefühlsausbruch ist auch deshalb unmittelbar berührend, weil er so unerwartet kam und so offensichtlich von Herzen.

Einem Bundeskanzler, für den der Holocaust nicht nur Anlass zu routiniertem Gedenken ist, sondern dem die deutsche Schuld an diesem schlimmsten Verbrechen wirklich nahe geht, möchte ich seine Gefühle nicht zum Vorwurf machen.

  • Die ganze Geschichte hier: Merz ringt mit Tränen bei Wiedereröffnung von Synagoge

Schwieriger Nachbarschaftsbesuch

Die Freude währte nur kurz, nachdem der neue polnische Präsident seinen US-Kollegen besucht hatte. Auf keinen Fall würde er Truppen aus Polen abziehen, sprach Donald Trump zu Karol Nawrocki. Die beiden Nationalkonservativen verstanden sich bestens, unverbrüchlich schien die Freundschaft – jedenfalls für wenige Tage. Dann drang ein Schwarm russischer Drohnen in den polnischen Luftraum ein, der auch Nato-Luftraum ist (mehr dazu, wie die Nato ihre Drohnenabwehr stärken könnte, erfahren Sie hier ). Und während Polen und seine europäischen Verbündeten deshalb in höchste Sorge gerieten und sich genötigt sahen, ihre gemeinsame Verteidigungsbereitschaft zu erklären, tat Trump – nichts. Und übernahm später die Erzählung der russischen Seite: Er sagte, bei der Sache mit den Drohnen habe es sich wohl um ein Versehen gehandelt, eine Panne.

Vielleicht war diese enttäuschende Erfahrung eine gute Gelegenheit für Nawrocki, darüber nachzudenken, wo die echten Freunde Polens zu finden sind, etwa direkt nebenan im Westen. Heute kommt der Pole zum Antrittsbesuch nach Berlin.

Das Verhältnis zu Deutschland ist eine der großen Streitfragen der polnischen Politik, berichtet mein Kollege Jan Puhl – und die Haltung der Konservativen ist eindeutig: »Die Deutschen, so denken Leute aus Nawrockis Umfeld, genießen einen Reichtum, der ihnen moralisch nicht zusteht, aus historischen Gründen. Dazu betätigen sie sich noch als europäische Besserwisser, was Umweltschutz und Demokratie angeht.« Gerade erst hat Nawrocki wieder die alte Forderung nach milliardenschweren Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg erhoben (mehr dazu hier ). Das klingt nicht nach einer neuen Sympathie für Berlin.

  • Mehr Hintergründe hier: Zu Gast beim bösen Nachbarn 

Rätselhafter Mord in rätselhaftem Land

War Ihnen der Name Charlie Kirk vor der Nachricht von seiner Ermordung bekannt? Womöglich nicht. Wohl vielen, die von sich sagen würden, dass sie sich für die politischen Vorgänge in den USA interessieren, ist Kirk vor dem vergangenen Mittwoch niemals untergekommen – mir selbst jedenfalls nicht, muss ich zugeben. Woran liegt das? Womöglich sind mir und vielleicht auch Ihnen die bis vor Kurzem noch so vertraut wirkenden USA fremder als angenommen.

Rätsel gibt auch der mutmaßliche Attentäter auf. Zwar hieß es schnell, der 22-jährige Tyler Robinson, der den politischen Influencer Kirk erschossen haben soll, sei ein Linker. Aber Belege für dessen politische Einstellung gibt es bisher keine (lesen Sie hier  mehr darüber, was über Tyler Robinson bekannt ist). Was es gibt, sind die kryptischen Inschriften, die Robinson auf die Patronen seines Gewehrs geschrieben haben soll, allesamt Anspielungen auf Memes aus der Szene der Videospieler.

Unser Kolumnist Christian Stöcker erklärt die Hintergründe dieser Inschriften, freilich ohne den Anspruch zu erheben, daraus eindeutige Schlüsse ableiten zu können: »Tyler Robinson hinterließ am Tatort Botschaften, die zunächst nur eine In-Group verstehen würde. Die sollte sich dann wiederum über die offensichtlich ahnungslosen Behörden und Politiker lustig machen können, die diese Botschaften nicht verstanden.«

Das Attentat auf Charlie Kirk: Eine unverständliche Tat in einem zunehmend unverständlichen Land, begangen von einem Mann, der sich in Codes ausdrückt.

  • Mehr Hintergründe hier: Ist der mutmaßliche Kirk-Attentäter wirklich ein Linker?

Lesen Sie hier den aktuellen SPIEGEL-Leitartikel

  • Europa darf Trump nicht auf den Leim gehen: Donald Trumps neueste Zoll-Forderung ist entweder ein Bluff. Oder eine Falle: Der US-Präsident will sein eklatantes Versagen in der Russlandpolitik den Europäern in die Schuhe schieben. 

Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz

Noch mehr Rätsel wie Wordle, Wortsuche und Paarsuche finden Sie bei SPIEGEL Games.

Verlierer des Tages…

…ist der TV-Unterhalter Stefan Raab – denn er hat bereits mit der ersten Kurzversion seiner kommenden neuen RTL-Show den Unmut meiner Kollegin Anja Rützel erregt und sie zu einem furiosen Verriss animiert, der wiederum uns alle zu Gewinnern macht: Denn wir dürfen ihn lesen und uns daran erfreuen.

  • Zum furiosen Verriss: Ring-ding-ding-ding-ding-ding-ding, rem-dem-dedededem! 

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

  • Vizepräsident Vance moderiert »Charlie Kirk Show« aus dem Weißen Haus: In Gedenken an den getöteten rechten US-Aktivisten Charlie Kirk hat der Vizepräsident eine Sonderfolge dessen Podcasts aufgezeichnet: Es gab Attacken gegen die Opposition – und sehr konkrete Drohungen.

  • Ozonloch erneut geschrumpft: Das Ozonloch ist laut der Weltwetterorganisation erneut kleiner geworden. Auch für die kommenden Jahre haben die Forscher eine gute Prognose.

  • Nonnen verlassen Seniorenheim und besetzen ihr ehemaliges Kloster in Österreich: Die Ordensschwestern Bernadette, Regina und Rita sind über 80 Jahre alt – und sorgen mit ihrer Hartnäckigkeit international für Schlagzeilen. Sie halten ihr ehemaliges Kloster besetzt. Bei Instagram folgen ihnen inzwischen Tausende.

Heute bei SPIEGEL Extra: »Die Vorbereitung auf einen Marathon ist gesünder als das Rennen selbst«

Ein Marathon belastet den Körper und stresst das Herz. Der Kardiologe Jürgen Scharhag erklärt, wie schnell sich unsere Pumpe erholt, worauf Hobbyläufer achten sollten und wie intensiv man für ein Sportherz trainieren muss .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr
Stefan Kuzmany, Autor der Chefredaktion

Bundeskanzler Friedrich Merz am Montag in der Synagoge in der Münchner Reichenbachstraße

Foto:

Anna Szilagyi / EPA

Polnischer Präsident Karol Nawrocki

Foto: Evan Vucci / AP / dpa

Trauernder Trump-Anhänger am Montag bei einer Gedenkveranstaltung für Charlie Kirk

Foto: Jim Urquhart / REUTERS

TV-Entertainer Stefan Raab

Foto: Rolf Vennenbernd / dpa
Foto: Oscar Carrascosa Martinez / DEEPOL / plainpicture

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