Nach einem Tag der Radiografien und Diagnosen kam spätnachts noch das emotionale Bulletin des Nationaltrainers. »Außerordentlich traurig und sehr verletzt« habe sich Lamine Yamal aus dem spanischen Quartier verabschiedet, erklärte Luis de la Fuente mehrfach. »Wer das Gegenteil behauptet, lügt oder hat böse Absichten.«
Lügen. Böse Absichten. Kaum ein Wort ist zu klein, wenn es um Lamine Yamal geht. Der Flügelstürmer des FC Barcelona, der mit 16 während der Vorrunde der EM 2024 für die Mittlere Reife büffelte, mit bestandener Prüfung die Spanier ins Finale schoss und dieses kurz nach dem 17. Geburtstag zu gewinnen half, ist mittlerweile 18 Jahre alt.
Weit über den Fußball hinaus hat das alle Welt mitbekommen, denn weil es ja um Lamine Yamal ging, wurde jedes Detail der einschlägigen Party auseinandergenommen. Das Motto Mafia und Kleinwüchsige im Unterhaltungsprogramm sorgten für wohlfeile Empörung. So jung und schon so verdorben: Die Fernurteile waren schnell gefällt.
Nationaltrainer de la Fuente kennt Yamal aus eigener Anschauung. Aber auch er konnte zu Wochenbeginn dem Impuls nicht widerstehen, Politik mit dem Teenager zu betreiben. In diesem Fall geht es um einen der klassischen Machtkämpfe während der von den Klubs besonders ungeliebten Länderspielpausen des Herbsts.
Bei der ersten im September war Yamal dabei und wurde mit Schmerzmitteln behandelt, wonach er verletzt ausfiel und sein Vereinstrainer Hansi Flick dem Verband eine Missachtung der Sorgfaltspflicht vorwarf. Seitdem befinden sich Flick und de la Fuente im Dauergefecht, während sich Yamal von Blessur zu Blessur hangelt.
Für das zweite Fenster im Oktober musste er kurzfristig wegen einer Schambeinentzündung passen. Dieselben Beschwerden veranlassten den Klub nun, ihn am Montag einem besonderen Therapieverfahren bei einem belgischen Spezialisten zu unterziehen. Der verschrieb später am Tag eine nach solchen Behandlungen übliche Pause von sieben bis zehn Tagen – also musste der spanische Verband RFEF den mittlerweile beim Team eingetroffenen Yamal wieder nach Hause schicken.
»Nicht normal«, fand de la Fuente den Vorgang. Die RFEF veröffentlichte sogar eine Art Protestnote dagegen und beförderte damit martialische Presseüberschriften über die »nächste Eskalation« in einem »Krieg« zwischen Barça und Verband.
Ohne Vorsicht droht eine lange Pause
Dabei dürfen die Sorgen des Vereins um Yamals Gesundheit durchaus als ernst gelten. Schambeinentzündungen sind hartnäckige, besonders unter Fußballern gefürchtete Sportlerverletzungen, die auf unberechenbare Weise kommen und gehen. Mit konservativen Behandlungsmethoden versucht man, eine Operation zu vermeiden.
Nico Williams, der kongeniale Sturmpartner Yamals vom anderen Flügel, zog sich im September bei der Nationalelf ebenfalls eine Schambeinentzündung zu. Williams kehrte erst voriges Wochenende auf den Platz zurück – und wurde für die Nationalelf lieber noch nicht wieder berufen. Die Saison ist ja noch lang.
Für Yamal, einen 18-Jährigen, der bereits 140 Profispiele absolviert hat – ungesehen in seinem Alter –, verlangt Barcelona noch mehr Vorsicht. Doch so einfach ist die Sache bei ihm nicht. Da geht es sofort um Prinzip und Exempel.
Wem gehört Lamine, Klub oder Verband? Auch diese Frage ist noch ein bisschen größer bei einem mit so viel Talent und Starappeal, wie ihn Spanien bisher nur von den besten Ausländern seiner Liga kannte. Messi, Neymar, den Ronaldos, neuerdings Mbappé.
Ohnehin lebt Yamal unter einem Brennglas. Vor dem jüngsten Clásico des FC Barcelona bei Real Madrid wollte er ein bisschen Spaß haben, als er in der Kings League von Gerard Piqué auftrat und insinuierte, Real würde »klauen und jammern«. Bargeplapper, aber er ist halt kein üblicher Barbesucher.
In Madrid fanden sie es gar nicht lustig. Die Zuschauer pfiffen ihn nieder, Reals Veteranen stellten ihn nach dem Schlusspfiff zur Rede. Die Worte über Yamal sind groß, von ihm selbst reicht jedes kleine Wort.
Seit seinem Spruch vor dem Clásico ist das Einwandererkind Lamine Yamal die neueste Projektionsfigur bei der ewigen Grabenbildung im Land: zwischen Real und Barça, Zentralspanien und Katalonien, Rechten und Linken.
Er selbst hat sich zwischen diese Fronten begeben, an denen er bei seinem Niveau zwar wohl irgendwann sowieso gelandet wäre. Aber vielleicht nicht ganz so schnell.
Die Unschuld stirbt, es droht toxisch zu werden, bevor er überhaupt eine WM gespielt hat.
Klickbringer zwischen Gossip und Kontroversen
Lamine lässt keinen kalt, Lamine klickt immer. Als die Website der Real-nahen »Marca« dieser Tage einen Artikel zum türkischen Wettskandal bebilderte, nahm sie ein Foto von Yamal im Spiel gegen die Türkei. In den sozialen Netzwerken wurde sogleich gewettert, das Blatt habe eine absichtliche Verbindung zwischen dem Barça-Star und Korruption herstellen wollen.
Ob es so war oder nicht – das Foto wurde ausgetauscht.
Die Dynamik ist vorhersehbar: Schießt er Spanien zum WM-Titel, wird Yamal natürlich gefeiert werden. Enttäuscht er, werden seine Hater sagen, er hätte doch gleich für Marokko spielen sollen, das Geburtsland seines Vaters.
Dann werden sie ihn noch mehr auspfeifen oder sogar rassistisch beleidigen wie eine Handvoll Schreihälse in der vergangenen Saison in Real Madrids Estadio Santiago Bernabéu – weit bevor Yamal irgendeine Polemik angezettelt hatte wie in dieser Saison.
Vergleichsweise harmlos waren da die Schmähungen, die er am Sonntag im Spiel bei Celta de Vigo zu hören bekam: Dort wurde er als Hahnrei verspottet, eine Anspielung auf die kürzliche Trennung von seiner Freundin, der argentinischen Sängerin Nicki Nicole.
In den vergangenen Monaten soll sie wahlweise von ihm schon schwanger gewesen oder von seiner Familie abgelehnt worden sein. Zwischendrin unterhielt das Paar den Boulevard auch in Eigeninitiative, etwa als es während der letzten Länderspielpause einen Helikopterflug über die kroatische Küste unternahm, Postings inklusive. In Lamines neue 11-Millionen-Euro-Villa, kürzlich gekauft von den Vorbewohnern Piqué und Shakira, wird Nicki Nicole nun nicht mit einziehen.
Vergleich mit dem schüchternen Messi
»Lamine ist sehr reif für sein Alter, weil er schon viel erlebt hat«, findet Barcelonas Präsident Joan Laporta. Manche Fans des eigenen Klubs stellen lieber sehnsüchtige Vergleiche zum schüchternen Lionel Messi an, der von einem Klubmitarbeiter und späteren Busenfreund erfolgreich von allen Verlockungen abgeschirmt wurde. Der junge Messi hatte immer nur Fußball im Kopf – und bot erst später durch eine Steueraffäre erstmals eine Angriffsfläche.
Vor allem aber sorgen sich die Anhänger um Yamals körperliche Verfassung, und das weniger wegen vermeintlicher Partys, zumal er erklärter Antialkoholiker ist. Doch seine Verletzung behinderte ihn in mehreren Matches, nicht zuletzt im Clásico, wo er sich kaum ein Dribbling traute.
Erst kürzlich näherte er sich wieder seiner Ausnahmeform der Vorsaison, beim Champions-League-Spiel in Brügge schoss Yamal wieder so ein Tor, das fast schon lächerlich wirkte vor so viel künstlerischer Leichtigkeit.
Diesen Aufwärtstrend wollte der Verein offenbar nicht durch de la Fuente gefährden, der in Barcelona keinen guten Ruf beim Thema Kükenschutz genießt.
Schon der damals 18-jährige Pedri wurde von ihm als Olympiacoach überbeansprucht (und litt danach jahrelang unter Verletzungen). Dem damals 19-jährigen Gavi rissen bei einem Länderspiel die Kniebänder, als er durch ein vorheriges Foul bereits angeschlagen war.
De la Fuentes Verteidigungen waren jeweils dieselben wie in den vergangenen Monaten bei Yamal: Die Spieler selbst hätten ihm gesagt, dass sie spielen wollen. Der Teenager, der lieber nicht spielen will, muss allerdings erst noch gefunden werden.
Unter normalen Umständen wird Spanien als ein Topfavorit zur WM 2026 reisen. De la Fuentes Auswahl funktioniert selbst ersatzgeschwächt wie ein Uhrwerk. Sie ist Weltranglistenerster und hat seit 29 Matches nicht mehr verloren. Allenfalls WM-Titelverteidiger und Südamerika-Champion Argentinien kann auf eine vergleichbare Bilanz blicken. Im März trifft man sich zur »Finalissima«, einem dieser neuen Fifa-Wettbewerbe, dem Supercup der Kontinentalmeister.
Bis dahin muss de la Fuente irgendwie den Nationalspieler Lamine Yamal aus der Schusslinie bekommen, in die ihn unter anderem er selbst befördert hat. Die pathosgeladenen Worte aus der Nacht sollten sicher diesen Zweck erfüllen.
Unterdessen hat sich auch ein anderer geäußert, der Lamine einen guten Teil seiner jüngsten Imageprobleme eingebrockt hat. Kings-League-Chef und Ex-Barça-Verteidiger Piqué mahnte, dass man im heutigen Fußball auf sich aufpassen müsse – und dass alle mit aufpassen sollen. »Wir wissen nicht, wie lange wir Lamine genießen können. Wir sollten ihn uns nicht ruinieren.«
Lamine Yamal steht fast immer im Mittelpunkt – auf dem Platz und daneben
Foto: Diego Simon / Photo Players Images / IMAGOLamine Yamal im Trikot Spaniens: Der Weg vom Gefeierten zum Geschmähten ist kurz
Foto: Juan Medina / REUTERS