Den 13. November 2015 wird Leroy Sané nie vergessen. Die Anschläge auf das Stade de France heute vor zehn Jahren haben dieses Länderspiel Deutschlands gegen Frankreich in den Rang eines Weltereignisses katapultiert. Jeder, der dabei war, wird sich auf ewig an diese dramatische Nacht erinnern.
Aber es war auch Sanés erstes Länderspiel. An diesem Abend, an dem eine besonders kontroverse Nationalelf-Karriere begann, interessierte sich bald niemand mehr für Fußball.
70 Partien hat der 30-Jährige nun insgesamt für den DFB absolviert. Er steht in der Statistik gleichauf mit Oliver Bierhoff. Nur Joshua Kimmich hat aus dem aktuellen Kader mehr Einsätze in der Nationalmannschaft. Kimmich debütierte noch nach Sané beim DFB. Dass er dennoch 35 Länderspiele mehr aufweist als sein langjähriger Bayern-Teamkollege, zeigt, wie wenig in Sanés DFB-Laufbahn glattging.
Ob am Freitag in Luxemburg (20.45 Uhr RTL, Liveticker SPIEGEL) oder am Montag gegen die Slowakei (20.45 Uhr ARD, Liveticker SPIEGEL) ein 71. und 72. Länderspiel hinzukommt, ist offen. Julian Nagelsmann hat Sané nach längerer Abwesenheit zwar wieder für den Kader der Nationalmannschaft nominiert. Aber der Bundestrainer hat auch klargemacht, dass der Profi von Galatasaray Istanbul unter besonderer Beobachtung steht. »Er wird unter meiner Führung nicht mehr viele Chancen bekommen, das weiß er selbst«, sagte Nagelsmann.
In diesem Satz schwingt mit, dass Sané aus Nagelsmanns Sicht genügend Chancen erhalten hat, sich beim DFB unverzichtbar zu machen. Aber er hat sie nicht genutzt. Über kaum einen anderen Nationalspieler wurde in den vergangenen zehn Jahren so lebhaft diskutiert wie über Sané.
Man kann diese zehn Jahre der vielen Chancen in zehn Episoden erzählen.
1. Gefühl für Räume
Zu seinem Debüt schien ganz klar: Hier hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ein Talent geschenkt bekommen, das es vielleicht nur alle zehn Jahre gibt. Als der damalige Bundestrainer Joachim Löw zu der erstmaligen Berufung des damals 19-jährigen Schalkers befragt wurde, sagte er: »Er ist ein Spieler mit einer besonderen Gabe. Leroy hat ein wahnsinnig gutes Gefühl für offene Räume, gerade mit seiner Schnelligkeit erfasst er die sehr gut.« Darin waren die Qualitäten Sanés passend beschrieben.
2. Randfigur
Bei der danach folgenden EM 2016 in Frankreich kam er jedoch nur zu einem Kurzeinsatz im Halbfinale gegen den Gastgeber. Sané wurde in der 79. Minute für Bastian Schweinsteiger eingewechselt. Da stand es schon 0:2 durch zwei Tore von Antoine Griezmann. Das Spiel war verloren. Sané blieb nur die Rolle eines Statisten. Diese Rolle als Randfigur hat sich in der Turniergeschichte Sanés weiter durchgezogen.
3. Ausbootung
Am krassesten fiel dieses Missverhältnis zwischen der Höhe der Erwartungen und dem, was daraus wurde, zweifellos 2018 aus. Vor der WM in Russland hatte Sané eine grandiose Saison bei Manchester City unter Coach Pep Guardiola gespielt. Er war als bester Jungstar der Premier League gekürt worden. Aber Löw verzichtete kurzfristig darauf, ihn zur Weltmeisterschaft mitzunehmen.
Dass dies weniger sportliche Gründe hatte, sondern an der mangelnden Disziplin des Angreifers lag, die nicht nur den Bundestrainer, sondern auch einige der erfahrenen Nationalspieler während der Vorbereitung in Südtirol irritiert hatte, gilt als bekannt. Ohne Sané wurde die WM zum Desaster für den Titelverteidiger – eigentlich die perfekte Vorlage, um danach als Hoffnungsträger den Neuanfang anzuführen.
4. Versprechen
Im November 2018 schoss Sané gegen Russland sein erstes Länderspieltor. Er traf auch gegen die Niederlande in der Nations League. Beim 0:0 gegen Frankreich zum Jahresabschluss in Paris bot er eine starke Vorstellung. Das Versprechen, es schien eingelöst zu werden.
Aber es blieb dabei: Die Laufbahn Sanés in der Nationalelf war immer launenhaft, mäanderte zwischen Brillanz und Abtauchen hin und her. 14 Treffer hat er in den 70 Länderspielen erzielt, für einen Mann seiner Klasse, für einen, der in der Lage ist, mit seinen Antritten, mit seinem Tempo dermaßen rasant von außen nach innen Richtung Tor zu ziehen, ist das wenig.
5. Neuanfang
Auch das führte dazu, dass Sanés Auftritte immer wieder Stoff für Diskussionen bildeten. Die Lässigkeit, die ihm Kritiker als Arroganz auslegen, sein Interesse für Mode, all das hat ihn nicht zum Liebling der Massen werden lassen. Als Hansi Flick 2021 von Joachim Löw übernahm, war das erste Länderspiel eine Qualifikationspartie gegen Liechtenstein. Sané wurde in der ersten Halbzeit getunnelt, wirkte völlig indisponiert. Dann gelang ihm ein Treffer, die Unsicherheit war weg und die Presse schrieb: »Was ein Tor alles verändern kann.« Ein Neuanfang?
Aber es war eben nur Liechtenstein.
6. Enttäuschungen
Bei der EM im Sommer 2021, nach der sich Löw verabschiedete, und bei der Weltmeisterschaft in Katar ein Jahr später reichte es für Sané auch verletzungsbedingt nur zu einem Startelfeinsatz. Wieder war der Hochbegabte nur eine Randfigur. Das DFB-Team schied in der Vorrunde aus. Ein Turnier als Desaster.
7. Ohrfeige
Zehn Monate nach dem Debakel von Katar war auch die Trainerzeit von Hansi Flick vorbei. Julian Nagelsmann übernahm. Und plötzlich wurde Sané zu einer Schlüsselfigur. Beim FC Bayern zeigte er damals herausragende Leistungen, in der Nationalelf hoffte man, dass er zum Leistungsträger reifen kann.
Doch beim Länderspiel in Österreich flog er nach einer Ohrfeige vom Platz, obwohl er bis dahin der einzige deutsche Spieler mit Normalniveau war. Die Ohrfeige wurde zum Sinnbild für die katastrophale Leistung der DFB-Elf. Danach krempelte Nagelsmann die Mannschaft um. Beim Stimmungswechsel, dem 2:0-Sieg in Lyon gegen Frankreich und dem 2:1 über die Niederlande im Vorfeld der EM, saß er seine Rotsperre ab.
8. 45 verschenkte Minuten
Zur EM 2024 reiste er mit Problemen in der Adduktorengegend an. Beim Turnier im eigenen Land musste sich Sané denn auch die meisten Auftritte der DFB-Elf von Beginn an von der Bank anschauen, kam lediglich als Einwechselspieler. Beim Viertelfinale gegen Spanien jedoch stellte Nagelsmann ihn überraschend in die Anfangsformation – und wechselte den Offensivmann nach nur 45 Minuten wieder aus. Es war eine verschenkte Halbzeit. Man hat den Eindruck: Diese Fehlentscheidung hat der Bundestrainer bis heute nicht vergessen.
9. Verzicht
Als Sané im Sommer nach seinen fünf Jahren in München die Bayern Richtung Türkei verließ, reagierte Nagelsmann mit der Nicht-Nominierung des Angreifers. Die Begründung: Die türkische Liga sei keine Topliga, er erwarte von Sané dort daher zwar »keine Wunderdinge, aber eine gewisse Quote«. Wo die liegt, sagte Nagelsmann nicht. Bisher hat Sané in 15 Spielen dreimal getroffen und drei Vorlagen geliefert. Offenbar reicht das zumindest für eine Rückkehr in den DFB-Kosmos.
Aber nur mit einer Einschränkung: Sané sei auch deshalb wieder mit dabei, so Nagelsmann, weil es in der Offensive zurzeit personell hake: »Wenn wir auf der Position sechs, sieben Spieler zur Auswahl hätten, dann hätte es Leroy deutlich schwerer.« Das klingt ziemlich unverblümt. Der Berliner »Tages« schreibt, Nagelsmann sei »von einem Förderer zu einem Forderer« in Sachen Sané geworden.
10. Liebe
Matthias Sammer, der ewige Mahner des deutschen Fußballs, hat Nagelsmann für die vergleichsweise harschen Worte in Richtung Sané kritisiert. »Meine Erfahrungen sind, Individualisten brauchen Liebe, brauchen so viel Liebe, dass es knallt. Das ist einfach so«, sagte Sammer.
Geliebt wurde Sané nie von den deutschen Fans, bestenfalls respektiert für seine Gabe. Heute ist er der große Polarisierer des DFB-Teams. Mit Löw hatte Sané lange einen Förderer, mit Nagelsmann eigentlich auch einen Vertrauten. Zum ganz großen Durchbruch hat es trotzdem nicht gereicht. Noch nicht?
Sané beim öffentlichen Training in Wolfsburg am Montag
Foto: Stuart Franklin / Getty ImagesBeim Länderspiel im Stade de France vor zehn Jahren
Foto: Matthias Hangst/ Bongarts/Getty ImagesEingewechselt im Halbfinale von Marseille
Foto: ERIC GAILLARD/ REUTERSIm DFB-Trainingslager in Eppan 2018
Foto: Alexander Hassenstein/ Bongarts/Getty ImagesTorerfolg gegen Russland im November 2018
Foto: Bernd Müller / IMAGOBei der Partie gegen Liechtenstein 2019
Foto: kolbert-press/Christian Kolbert / imago images/kolbert-pressBei der WM 2022 gegen Costa Rica
Foto: INA FASSBENDER / AFPRote Karte in Wien gegen Österreich 2023
Foto: Christian Charisius / dpaIm EM-Viertelfinale 2024 gegen Spanien
Foto: Tom Weller / dpaSané und der Bundestrainer
Foto: Geert van Erven / Soccrates / Getty ImagesAutogramme für die DFB-Fans in Wolfsburg in dieser Woche
Foto: Stuart Franklin / Getty Images