In den vergangenen Jahren ist etwas Bemerkenswertes passiert: Der Begriff »postfaktisch«, auf Englisch »post-truth«, hat sich von der Beschreibung einer Fehlfunktion demokratischer Gesellschaften zu einer vermeintlich akzeptierten Wirklichkeitsbeschreibung gewandelt. Mit dieser Definition von »post-truth« kürte das Oxford Dictionary die Wendung 2016 zum »Wort des Jahres« : »Beschreibt einen Zustand, in dem objektive Fakten in der öffentlichen Meinungsbildung weniger einflussreich sind als Appelle an Emotionen und persönliche Überzeugungen.«
Seitdem hat sich politisch-medial irgendwie die Vorstellung durchgesetzt, »postfaktisch« sei so etwas wie der neue Standard. Politiker wie Markus Söder scheinen Trump sogar beim Ersetzen von Fakten durch gefühlte Wahrheiten nachzueifern. Die erneute Wahl Trumps zum US-Präsidenten schien diese Lesart zu bestätigen: Tatsachen zählen nicht mehr, entscheidend ist, wer auf die richtigen Knöpfe drückt.
Lauter falsche Tatsachenbehauptungen
Dabei geraten zwei Dinge durcheinander. Mit ständigem Lügen kann man vielleicht Wahlen gewinnen – aber die Fakten gehen davon nicht weg. Die Realität ändert man nicht, indem man gegen sie anlügt.
Die neue »Nationale Sicherheitsstrategie« , die der innerste Kreis um Donald Trump offenbar mehr oder weniger im Alleingang produziert hat, ist nach der Oxford-Definition ein »postfaktisches« Dokument: Sie enthält lauter falsche Tatsachenbehauptungen, die bei Trumps treuesten Wählern aber vermutlich gut ankommen.
Da ist zum Beispiel die groteske Behauptung, Europa stünde vor der »zivilisatorischen Auslöschung« durch Migration. Was zu diesem Thema in dem Dokument steht, liest sich wie Tiraden, die man sonst von AfD-Abgeordneten oder Verschwörungstheoretikern kennt, nach der (im Kern immer auch antisemitischen) Verschwörungserzählung vom »Bevölkerungsaustausch«. Nun taucht dieser rechtsextreme Fiebertraum ausgerechnet in einer »Sicherheitsstrategie« des Einwanderungslandes USA auf.
Ideologen sind immer die anderen
Noch gravierender ist der Realitätsverlust hinsichtlich der Klimakrise. »Wir weisen die desaströsen ›Klimawandel‹- und ›Netto-null‹-Ideologien zurück«, steht in dem Text. Diese »Ideologien« hätten »Europa sehr geschadet« und würden »unsere Widersacher subventionieren«. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Klimakrise ist real, gefährlich, extrem teuer und tötet schon jetzt Zehntausende Menschen pro Jahr . Ideologisch ist es, das weiterhin zu leugnen.
Die aktuelle US-Regierung baut also geopolitische Erwägungen auf vor über 50 Jahren von Öllobbyisten erdachter Desinformation auf. So dreist wäre im Jahr 2025 nicht einmal mehr der Chef von ExxonMobil. Nicht zuletzt, weil er sich damit vor anderen CEOs lächerlich machen würde.
An den Börsen, in den Bankhäusern, in den Versicherungsgesellschaften der Welt ist schon lange völlig klar, dass die Klimakrise nicht nur real ist, sondern gigantische Schäden anrichtet.
Um Günther Thallinger zu zitieren , Vorstandsmitglied der Allianz: »Der Übergang zu einer Netto-null-Wirtschaft ist nicht nur eine Frage der Nachhaltigkeit, sondern eine finanzielle und operative Notwendigkeit, um eine Zukunft zu vermeiden, in der Klimaschocks unsere Fähigkeit zur Erholung übersteigen und Regierungen, Unternehmen und Haushalte überfordern.«
Grinsen über den brabbelnden Greis
In der Uno-Vollversammlung behauptete Trump dagegen, die Nationen der Welt schadeten sich selbst mit erneuerbaren Energien. Auch das dürfte vor allem Kopfschütteln, heimliches Grinsen und heimliche Verachtung für den schwadronierenden Greis hervorgerufen haben.
Man muss sich immer vor Augen halten, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am globalen Kapazitätswachstum zur Stromerzeugung im Jahr 2022 bei 83 Prozent, 2023 bei 86 Prozent und 2024 bei 92,5 Prozent lag. Es wird demnach fast nichts anderes mehr gebaut, auch wenn man beim Blick auf neue Kohlekraftwerke in China noch einen verzerrten Eindruck bekommen könnte. Das liegt daran, dass erneuerbare Energien nun einmal die billigste Form der Stromerzeugung sind. Erst recht in Verbindung mit den ebenfalls exponentiell wachsenden Batteriegroßspeichern. Und zwar überall: »Trotz der präsidialen Animositäten brummt die US-Solarindustrie«, so der britische »Economist« .
Einem Bericht der Federal Energy Regulatory Commission (FERC) der USA zufolge waren in der ersten Hälfte des Jahres 2025 über 91 Prozent der dort neu an das Netz angeschlossenen Kapazitäten erneuerbar. Photovoltaik macht den weit überwiegenden Anteil aus, und zwar schon seit über zwei Jahren kontinuierlich . Von deutschen IP-Adressen aus ist die FERC-Website interessanterweise nicht zu erreichen (was sich mit einem VPN-Tunnel aber umgehen lässt). Vielleicht sind der US-Regierung die Zahlen peinlich.
Das Labor, das nicht mehr »erneuerbar« heißen darf
Der Selbstbetrug dieser Regierung ist fast schon wieder komisch: Das »National Renewable Energy Laboratory« hat sich gerade umbenannt – jetzt taucht »renewable« nicht mehr im Namen auf. Selbst im Trump-Kernland Texas werden derweil in atemberaubendem Tempo Erneuerbare und Speicher ausgebaut . Die Wirtschaft ignoriert die fossile Propaganda aus dem Weißen Haus.
Auch der Rest der Welt hat längst verstanden, dass die Klimakrise real ist und die Alternativen attraktiv sind. Es gibt gigantische globale Mehrheiten für mehr Klimaschutz. Man nimmt die USA als Wirtschafts- und Militärmacht selbstverständlich weiterhin ernst – sonst aber eben nicht mehr, solange Donald Trump und sein Speichellecker-Kabinett regieren. Man kann nicht Weltpolitik mit der Desinformation machen, mit der man sonst seine Wähler verlädt und seine Handlanger auf Linie hält. Das sollten europäische Politikerinnen und Politiker dringend im Kopf behalten. Donald Trump ist irgendwann nicht mehr da, aber die Fakten bleiben.
Die Bevölkerung der USA ist in wesentlichen Teilen sehr desinformiert, insbesondere die Wählerinnen und Wähler der Republikaner. Nicht nur, was die Klimakrise oder die US-Wahl 2020 , sondern auch, was etwa den aktuellen Zustand der US-Wirtschaft , Migration und viele andere Themen angeht. Gewaltige Teile der Republikaner-Wähler glauben an diverse Verschwörungserzählungen , auch über den Holocaust. Anhänger rechtsextremer oder verschwörungsideologischer Ideen geben teilweise sogar bereitwillig zu , selbst absichtlich und wissentlich Desinformation zu verbreiten.
Neben dem rechtsextremen und verschwörungsideologischen Milieu tragen vor allem Fox News und die Lokalsender der nicht minder propagandistisch operierenden Sinclair Group die Hauptschuld – und natürlich die Republikaner und Trump selbst.
Von »postfaktischer« Politik profitieren nur »postfaktische« Parteien
Doch auch wenn man die Klimakrise leugnet: Die Katastrophen passieren trotzdem. Weite Teile der USA – gerade Teile, in denen die Republikaner gute Ergebnisse erzielen, – werden desaströse Veränderungen erleben . Auch die unaufhaltsame Transformation des globalen Energiesystems geht nicht weg, wenn man so tut, als existiere sie nicht. Das Gleiche gilt für Wirtschaftspolitik: Die Arbeitslosenzahlen ändert man nicht, indem man sie nicht mehr publik macht . Die Inflation steigt, auch wenn Trump beharrlich das Gegenteil behauptet , Zölle bezahlen nicht primär die Exporteure, sondern die Importeure und Konsumenten . All das merken die Leute früher oder später, im Zweifel beim Blick aufs Konto. Und das sieht man längst auch an Trumps Umfragewerten .
Mit »postfaktischer« Politik kann man vielleicht Wahlen gewinnen, aber man richtet damit eben auch sein Land zugrunde.
Das sollte Europa Selbstvertrauen geben und diversen deutschen Politikern eine Warnung sein. Wenn Markus Söder kanadische »Mini-Kernkraftwerke« erfindet oder Jens Spahn »grünes Öl« und solarbetriebene Gasheizungen , dann richtet das Schäden an. Nicht zuletzt an der Demokratie selbst. Von »postfaktischer« Politik profitieren nur »postfaktische« Parteien wie die AfD: In der Opposition lügt es sich leicht, denn man muss ja nichts umsetzen.
Erfolgreich regieren aber kann man nur hier drüben in der Realität.