Der Bundeswehrverband hält die Entscheidungen des SPD-Parteitags zur neuen Wehrpflicht für fahrlässig. »Vielen in der SPD ist offenbar immer noch nicht klar geworden, vor welchen enormen Herausforderungen wir aufgrund unserer fragilen europäischen Sicherheitsarchitektur, der Bedrohungslage und den daraus abgeleiteten militärischen und personellen Fähigkeitszielen stehen«, sagte der Verbandschef André Wüstner dem SPIEGEL.
Der Oberst erläuterte, eine neue Art der Wehrpflicht sei sicherlich »kein Allheilmittel«, um die Personalprobleme der Bundeswehr zu lösen. »Aufgrund der Vorgabe, dass die Bundeswehr schnell um rund 80.000 Soldaten wachsen muss, wird Freiwilligkeit allein nicht reichen«, betonte Wüstner. Aufgrund der neuen Ziele der Nato muss die Truppe in den kommenden Jahren von rund 180.000 auf 260.000 Soldaten anwachsen.
Die SPD hatte beim Parteitag einen Eklat über den neuen Wehrdienst, den Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vorbereitet, zwar abgewendet. Allerdings haben die Genossen ihrem Minister straffe Zügel für seinen neuen Gesetzentwurf angelegt. Nachdem die Jusos zunächst einen Antrag eingebracht hatten, der einer Totalverweigerung gleichkam, fanden Parteichef Lars Klingbeil und Pistorius einen Kompromiss. »Wir wollen keine aktivierbare gesetzliche Möglichkeit zur Heranziehung Wehrpflichtiger, bevor nicht alle Maßnahmen zur freiwilligen Steigerung ausgeschöpft sind«, lautete am Ende der Kompromiss im Parteitagsbeschluss.
Pistorius wollte mit einem Gesetz die Reaktivierung der Wehrpflicht für einen Teil der Männer über 18 zumindest als Rückfalloption ermöglichen, wenn das weitgehend freiwillige Modell nicht die nötigen Zahlen an Rekruten erbringt. Zunächst, so der Plan, wäre die Musterung verpflichtend gemacht worden, wohlgemerkt nach einem Kabinetts- und Parlamentsbeschluss. In einem zweiten Schritt steht auch die Reaktivierung der Wehrpflicht in seinem Gesetzentwurf, allerdings wird sie Kontingentwehrpflicht genannt. Auch hier sieht der Entwurf einen Kabinetts- sowie einen Bundestagsbeschluss vor.
Viele in der SPD, allen voran die Jusos, versteiften sich trotzdem darauf, dass der Pistorius-Plan für den neuen Wehrdienst eine Art Automatismus hin zur Reaktivierung der Wehrpflicht vorsieht. Die Versuche des Ministers, einflussreiche Personen aus seiner Partei vor dem Parteitag umfangreich zu briefen und mit allen Details seines Vorhabens vertraut zu machen, scheiterten. Nun wird er sehen müssen, wie viel er von seinem ursprünglichen Gesetzentwurf noch umsetzen kann, nachdem seine Partei ihn zum zweiten Mal nach dem Herbst vergangenen Jahres beim Thema Wehrdienst eingebremst hat.
Der Bundeswehrverband sieht trotzdem Chancen. Wüstner jedenfalls meint, es gebe »keinerlei Einschränkung« für wichtige Weichenstellungen abseits der Wehrpflicht. Wichtig sei, bis zum Spätsommer »alle Entscheidungen für den Aufwuchs auf 260.000 aktive Soldaten sowie 200.000 Reservisten zu treffen«. Nötig sei ein abgestimmtes Konzept für den Aufwuchs, den daraus abgeleiteten Bau neuer Kasernen in zweistelliger Anzahl, der Beschaffung der nötigen Ausrüstung. Zudem müsse der Soldatenberuf deutlich attraktiver werden, um ausreichend Soldaten zu gewinnen.
Grundsätzlich folgt der Pistorius-Plan dem sogenannten schwedischen Modell. Kommt sein Gesetz durch den Bundestag, bekommen ab Mai 2026 alle Männer und Frauen über 18 einen Fragebogen zugeschickt. Die Männer müssen die Fragen zu ihrer Gesundheit und zum Interesse, zur Bundeswehr zu gehen, beantworten. Für Frauen bleibt dies freiwillig. Die Maßnahme allein sichert, dass die Bundeswehr für einen Krisenfall wenigstens die aktuellen Daten der wehrfähigen Männer sammelt; diese sogenannte Wehrerfassung war nach der Aussetzung der Wehrpflicht eingeschlafen.
Bisher weiß niemand, ob der Fragebogen allein genug Freiwillige generiert, um die Lücken der Bundeswehr zu füllen. Die Strategen von Pistorius wollen den neuen Wehrdienst deutlich attraktiver machen als den bisherigen Freiwilligen Wehrdienst, kurz FWDL, den es bereits gibt. Abseits von einem besseren Sold soll der Dienst selbst viele Anreize für junge Leute bieten. In den vergangenen Jahren meldeten sich meist um die 10.000 Freiwillige für das FWDL-Angebot. Kommt Pistorius nach dem Mai mit seinem Dienstmodell auf 5000 weitere Freiwillige, wäre das ein Erfolg.
Die Union will schnell zurück zur Wehrpflicht
Im Wehrressort aber zweifeln nicht wenige, dass der Fragebogen allein reichen wird. Nicht nur deswegen wollte Pistorius wenigstens den Übergang zu mehr Pflichtelementen schon im aktuell geplanten Gesetz verankern. In der politischen Praxis würde dem Minister schlicht die Zeit fehlen, bei einem Scheitern seines Freiwilligenmodells ein weiteres Gesetz mit mehr Pflicht oder gar der Rückkehr zur Wehrpflicht durch den Bundestag zu bringen. Wohl auch deshalb sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch schon vor Wochen, über die Wehrpflicht müsse man in dieser Legislaturperiode nicht mehr reden.
Abseits der Hakeleien mit den eigenen Genossen kann sich die Causa durchaus noch zum Streitthema in der Koalition entwickeln. Die Union würde gern schnell zurück zur Wehrpflicht, war aber mit dem Pistorius-Modell einverstanden, um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. Nun aber regt sich Kritik. »Der Beschluss ignoriert die aktuellen verteidigungspolitischen Herausforderungen und t allein die Position der SPD wider«, wetterte zum Beispiel Thomas Röwekamp, Chef des Verteidigungsausschusses. Ähnlich dürfte das auch Bundeskanzler Friedrich Merz sehen.
Nach außen gaben sich Pistorius und der Juso-Chef Philipp Türmer wie echte Genossen
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