Zugegeben, ich hänge an den Sozialstaatsreformen, von denen jetzt alle reden. Nicht so zärtlich wie Heribert Prantl , der in der »Süddeutschen Zeitung« schrieb, der Sozialstaat brauche »Pflege, nicht Misshandlung«. Doch weil diese Reformen manifest, überfällig und heikel zugleich sind, entscheiden sie maßgeblich über die Zukunft des Landes. Folglich möchte man denken, dass die, die sie ins Werk setzen, sich die Sache nicht schwerer machen als nötig. Falsch gedacht. Es ist, als hätten die Koalitionäre von drei möglichen Fehlern aus der Klippschule der Kommunikation vier oder fünf schon gemacht.
CDU und CSU malen die avisierten Veränderungen denkbar blutig aus, weil sie glauben, das ließe sie stark aussehen. Die Sozialdemokraten malen die Veränderungen denkbar blutig aus, weil sie glauben, der Widerstand ließe sie stark aussehen. Nichts von beidem wird eintreten, bei nur zwölf Stimmen Mehrheit im Bundestag.
Der Herbst brauche »schmerzhafte Entscheidungen«, sagt der Kanzler. »Einschnitte« will er sehen, »harte Reformen« der bayerische Ministerpräsident. Einen Herbst, »der sich gewaschen hat«, kündigt der CDU-Generalsekretär an. Allein: Wen wollen die Herren begeistern? Etwa sich selbst? Was sie sich trauen, wie mutig sie sind, anderen etwas zuzumuten? Dergestalt das Publikum schon vor Beginn der Aufführung zu verstören, erinnert an frühes Experimentaltheater an der Stadtteilbühne Delmenhorst. Immerhin, der Kanzler weiß, dass er das Stück nicht »Agenda« nennen kann. Das bisschen Rücksicht auf die Traumata der Sozialdemokraten sollte auch der CDU-Generalsekretär nehmen. Kostet ja nichts.
Die SPD ihrerseits gräbt alte Schützengräben noch tiefer. Weil der Sozialstaat den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleiste, vergehe sich an der deutschen Demokratie, wer ihn infrage stelle. So geht das linke Mantra, doch es führt nirgendwohin: Ein reformierter Sozialstaat kann die Demokratie ebenso gut retten, wenn es denn nötig werden sollte – aber für weniger Geld. Um dieser Debatte auszuweichen, arbeitet die Arbeitsministerin mit dem Wieselwort vom »Schutzniveau«. Das sei unantastbar, schwöre.
Doch wenn »Schutzniveau« heißt, nicht an die Sätze der wichtigen Sozialleistungen zu gehen oder gar an die Rentenauszahlungen, dann ist es bloßer Schaukampf. Die Renten können nämlich gar nicht gekürzt werden, sie können bloß weniger schnell steigen. Und auch bei Kinder- oder Bürgergeld ist eine Senkung der Sätze nahezu ausgeschlossen. Wenn »Schutzniveau« hingegen meint, den Kreis der Empfänger gleich groß zu halten, wäre es eine Frechheit: Die einzig mögliche Remedur gegen die Milliardenausgaben und -defizite wäre damit von vornherein blockiert. Viel zu lange schon halten es SPD (und artverwandte Gruppen der CSU) für »soziale Politik«, eine wachsende Zahl von Sozialleistungen an eine wachsende Zahl von Empfängern auszureichen.
Um das zu ändern, muss keineswegs gleich die Kettensäge kommen. Ein bisschen weniger Gießkanne reicht schon, wie beim Elterngeld bewiesen. So wurde die Anspruchsgrenze von 300.000 Euro gemeinsamem Jahreseinkommen in zwei Etappen auf 175.000 Euro gesenkt, wobei ich gern einmal die Leute kennenlernen möchte, die fanden, wer 300.000 Euro im Jahr habe, brauche obendrauf noch Elterngeld.
Bei der Rente mit 63 und anderen Sonderrenten könnte man die Anspruchsbedingung von (45) Versicherungsjahren durch Arbeitsjahre ersetzen. Das ist merklich ein Unterschied, weil dann unter anderem Zeiten der Arbeitslosigkeit, Krankheit, Wehrdienst, Schule, Ausbildung oder mit einem Minijob herausfallen – und sich der Kreis auf jene verkleinert, die tatsächlich 45 Jahre Arbeit hinter sich haben . Um die ging es aber, vor allem um 45 Jahre körperlicher Arbeit. Darum müsste die SPD-Intention der Rente mit 63 gar nicht antasten, wer bestimmte Berufsgruppen ausnimmt, weil sie eben nicht anhaltend körperlich arbeiten. Oder wird das Bas’sche »Schutzniveau« gesenkt, wenn die »Falschen«, die ursprünglich gar nicht adressiert werden sollten, diese Sonderrente aus Steuermitteln künftig nicht mehr erhalten? Wir reden über mehrere Hunderttausend Menschen, die pro Jahr neu hinzutreten.
Letztes Beispiel Bürgergeld: Den Kreis der ukrainischen Empfänger hat man im Frühjahr geschlossen, er wächst nicht mehr . Der Kreis aller 5,5 Millionen Empfänger insgesamt kann indes nur schrumpfen, wenn ihn möglichst viele in Richtung regulärer Arbeit verlassen, die Kinder unter ihnen mit ihren Eltern. Auch unbequeme Arbeit sei besser als keine Arbeit (Olaf Scholz 2003) , hieß es dazu bei den Sozialdemokraten, als sie noch Wahlen mit mehr als 30 Prozent abschlossen. Rund 1,9 Millionen Bürgergeldbezieher könnten sofort arbeiten, wenn sie eine Stelle hätten. Oder eine annehmen müssten.
Daraus ergibt sich die bürgerliche Frage: Warum eigentlich können sich Langzeitarbeitslose gegebenenfalls aussuchen, ob sie Bürgergeld beziehen oder für mindestens einige Hundert Euro mehr einer zumutbaren Arbeit nachgehen möchten? Dieses widersinnige Wahlrecht zwischen eigenständigem und gesellschaftlich alimentiertem Lebensunterhalt dürfte stark dazu beitragen, dass die Zahl der Empfänger nicht ernsthaft schrumpfen will – weder in Zeiten, als die deutsche Wirtschaft wuchs, noch derzeit, wo immerhin noch deutlich mehr als eine Million Stellen unbesetzt sind.
Kurzum: Nicht »Einschnitte«, imaginierte »Kürzungen« oder ein extensiv ausgelegtes »Schutzniveau« haben Dreh- und Angelpunkt des (künftigen) Sozialstaats zu sein. Stattdessen sollten allein Begriff und Idee der Bedürftigkeit wieder zählen. So war es früher. Und so war es besser.