Der Videobeweis im Fußball hat in den vergangenen Wochen wieder für viele Diskussionen gesorgt. In der zweiten Runde des DFB-Pokals wurden keine Videoassistenten (VAR) eingesetzt. Prompt wurde bei einem Tor des FC Bayern eine klare Abseitsstellung übersehen.
Gegner des Videobeweises nehmen dies trotzdem zum Anlass, ihre Forderung nach einer Abschaffung – oder zumindest einer Reform – zu erneuern. Eine beliebte Reformidee ist die Einführung einer sogenannten Challenge, wie es sie beispielsweise im Tennis gibt. Nun bietet die Weltmeisterschaft der U17-Junioren in Katar Anschauungsunterricht, wie ein solches System aussehen könnte.
Titelverteidiger Deutschland startete am Dienstag mit einem 1:1 gegen Kolumbien in die WM. In dieser Partie kam es direkt zum ersten Einsatz des vom Weltverband Fifa offiziell »Football Video Support« (FVS) genannten Systems.
Nach dem Ausgleichstreffer der Kolumbianer nahm der deutsche Trainer Marc-Patrick Meister seine Challenge, um eine mögliche Abseitsstellung in der Entstehung des Tores überprüfen zu lassen. Schiedsrichter Hamza El Fareq schaute sich die Szene deshalb auf einem Monitor am Spielfeldrand an, kam aber relativ schnell zu der Entscheidung, dass kein Abseits vorlag. Der Treffer zählte.
Aber das neue Modell wirft Fragen auf:
Wie ist der genaue Ablauf im FVS?
Bei der U17-WM haben die beiden Trainer jeweils die Möglichkeit, zwei Überprüfungen einzufordern. Dafür gibt es eine Blaue Karte, die dem vierten Offiziellen an der Seitenlinie zeitnah gezeigt werden muss, um eine Unterbrechung des Spiels einzuleiten. Eine genaue Definition von »zeitnah« gibt die Fifa dabei nicht vor. Es soll aber nicht dazu führen, dass auf der Trainerbank Videos studiert werden, um nach Ablauf einer Spielszene einzugreifen.
Die Trainer haben eine Eingriffsmöglichkeit weniger, wenn der Protest unbegründet ist. DFB-Coach Meister hätte am Mittwoch somit noch einmal einschreiten können. Wenn der Schiedsrichter seine Entscheidung revidiert, bleiben die beiden Challenges erhalten.
Der Schiedsrichter schaut sich die entsprechende Szene ohne den Trainer an einem Monitor an, vergleichbar mit der Review-Area beim VAR in der Bundesliga. Er kann sich dabei mit dem Vierten Offiziellen beraten, es gibt allerdings keinen zugeschalteten Videoassistenten.
Was wird überprüft?
Die Trainer können in vier Fällen ihre Blaue Karte ziehen. Wenn ein Tor fällt, wenn auf Elfmeter entschieden wird, bei Platzverweisen und wenn womöglich ein Spieler verwechselt wurde.
Wie ist die technische Ausstattung?
Ein sogenannter Operator stellt dem Schiedsrichter die TV-Bilder zur Verfügung, mit der die entsprechende Szene bewertet werden kann. Dabei kann auf alle im Stadion befindlichen Kameras zugegriffen werden. Das sind, im Vergleich zur Bundesliga oder anderen großen Wettbewerben, aber deutlich weniger Einstellungen. Bei der Bewertung von Abseitssituationen werden dem Schiedsrichter keine kalibrierten Linien gezogen.
Warum erlaubt die Fifa ein zweites System?
Da die Infrastruktur deutlich geringer ist, ist das FVS-System eine kostengünstige Alternative zum herkömmlichen Videobeweis. Die Fifa hat sich darauf eingelassen, um kleineren Turnieren oder Wettbewerben die Möglichkeit zu geben, die Gerechtigkeit zu erhöhen.
Ist die U17-WM der erste Testlauf?
Erste Challenge-Erfahrungen sammelte die Fifa bereits 2021 bei der Futsal-WM, einer Hallenfußballvariante. Seitdem wurde das System wiederholt getestet, etwa bei den U20-Weltmeisterschaften der Frauen 2024 und der Männer 2025. In dieser Saison wurde es zudem in Ligen eingeführt, die nicht in Fifa-Verantwortung liegen, in der drittklassigen Serie C der Männer in Italien und in der höchsten Frauen-Spielklasse in Spanien.
Was sind die Stärken des Challenge-Systems?
Die Verantwortung für mögliche Eingriffe ins Spiel wird den Schiedsrichtern genommen und in die Hände der Trainer gelegt. Somit fällt ein großer Kritikpunkt der VAR-Gegner weg. Den Unparteiischen und vor allem den Videoassistenten wird häufig unterstellt, zu akribisch nach möglichen Fehlern zu suchen und somit den Spielfluss zu hemmen.
Die Erfahrungen des Spiels der deutschen U17 am Mittwoch und von vorherigen Turnieren zeigt, dass es grundsätzlich weniger Eingriffe gibt. Ob das daran liegt, dass bei den Trainern die Hemmschwelle höher liegt oder es im Eifer des Gefechts vergessen wird, ist allerdings unklar.
Wo liegen die Schwächen?
Die geringere technische Ausstattung sorgt bisweilen dafür, dass die Eingriffe sehr lange dauern, da die TV-Bilder nur bedingt zur Aufklärung beitragen. So sind die Verantwortlichen in Spanien bereits dazu übergegangen, in der ersten Frauen-Liga die Überprüfungen vom vierten Offiziellen durchführen zu lassen, um dem Schiedsrichter die Wege an die Außenlinie zu ersparen.
Das Finale der U20-WM der Männer hat gezeigt, wozu das führen kann. Beim Stand von 0:0 wurde ein marokkanischer Spieler vom argentinischen Torhüter an der Strafraumgrenze gefoult. Bis zur Spielunterbrechung verging eine Minute, der Schiedsrichter schaute sich im Anschluss drei Minuten die Szene am Bildschirm an, ehe er seine Entscheidung verkündete. Den anschließenden Freistoß verwandelte ein Marokkaner zur 1:0-Führung – allerdings insgesamt über sechs Minuten nach dem Foul.
Ob das FVS-System den Fußball gerechter macht, ist ebenfalls unklar. Sollte es nach Aberkennung der Challenges zu spielentscheidenden Szenen kommen, ist kein Eingriff mehr möglich. Die fehlenden Abseitslinien könnten für die Schiedsrichter zudem zu einem weiteren Problem werden.
Ist die Ablösung des aktuellen VAR-Systems realistisch?
Die Fifa hat sich in dieser Frage klar positioniert. Der Weltverband sieht die Challenges nur als Ergänzung zum bisherigen System, um kleinere Wettbewerbe nicht gänzlich vom Videobeweis auszuschließen.
Wie ist die Lage in Deutschland?
Knut Kircher, Chef der Schiedsrichter GmbH, hat sich bereits im vergangenen Jahr positiv geäußert. »Wir als Schiedsrichter sind allem gegenüber aufgeschlossen, was dem Fußball guttut«, sagte er in der »Sportschau«. »Und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass der Video-Support dem Fußball guttut.« Es ist daher vorstellbar, dass in der Frauen-Bundesliga oder in der 3. Liga der Männer Challenges eingeführt werden.
Nach der Kritik an den Schiedsrichter-Leistungen im DFB-Pokal hatte Kircher zu einer anderen Idee Stellung bezogen und sich auch dabei offen gezeigt. »Es wäre ein Lösungsansatz, eine Art VAR light in den ersten beiden Pokalrunden einzuführen«, sagte Kircher der »Bild«-Zeitung . »Ein Videoschiedsrichter, der nur die normalen TV-Bilder zur Verfügung hat und so eklatante Fehlentscheidungen mit einem schnellen Blick verhindern kann.«
Kircher verwies dabei aber auf ein grundsätzliches Problem bei allen Reformgedanken: »Man müsste klären, ob die Fifa da mitspielt, wie es die Verantwortlichen des Spielbetriebs DFB-Pokal sehen und ob da auch die Vereine zustimmen«, sagte er. Ohne Zustimmung der Fifa geht in Sachen Videobeweis gar nichts.
Und so ist es sehr unwahrscheinlich, dass in der Bundesliga das Challenge-System eingeführt wird.
DFB-Trainer Marc-Patrick Meister: Blaue Flasche statt Blauer Karte:
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Die deutsche U17 mit Juan Catano (r.) startet mit einem 1:1 gegen Kolumbien in die WM
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