Dass es ein wahres Massaker gegeben haben muss, ist seit 2016 bekannt : Damals untersuchte ein Forschungsteam Knochen von Neandertalern aus den Goyet-Höhlen in Belgien. Die Fossilien waren übersät mit Schnitten von Steinmessern und tiefen Kerben, die entstehen, wenn jemand einen Knochen spaltet, um an das Mark zu gelangen. Das Ergebnis der Experten: Hier wurden vor etwa 45.500 bis 40.500 Jahren mehrere Neandertaler geschlachtet – und zwar höchstwahrscheinlich von anderen Neandertalern, nicht vom Homo sapiens, dem modernen Menschen, von dem in der Region der Höhle keine Spuren aus jener Zeit gefunden wurden.
Nun berichtet ein weiteres Team von Wissenschaftlern in der Fachzeitschrift »Scientific Reports« , dass die Kannibalismus ausübenden Neandertaler keinesfalls zufällig vorgingen, sondern sich ihre Opfer ganz gezielt aussuchten. Getötet wurden demnach mindestens sechs Individuen, offenbar vier erwachsene oder jüngere Frauen sowie zwei Kinder – eines davon ein Baby. Es handelte sich zudem offenbar durchweg um kleinwüchsige Individuen mit einer Knochenstruktur, die abwich von der jener Individuen, die im Bereich der Höhle lebten.
Aufgrund des schmächtigen Körperbaus der Opfer sei es unwahrscheinlich, dass diese sich selbstständig auf den Weg zu den Goyet-Höhlen gemacht hatten, stattdessen seien sie wohl gezielt gejagt, verschleppt und dann getötet worden, berichten die Forschenden.
Mindestens deuteten die Ergebnisse darauf hin, »dass schwächere Mitglieder einer oder mehrerer Gruppen aus einer benachbarten Region gezielt ins Visier genommen wurden«, heißt es in der Studie. Es könne vermutet werden, dass es ganz gezielt darum gegangen sei, das Fortpflanzungspotenzial einer konkurrierenden Gruppe zu untergraben. Das Fachteam sieht eine Hungersnot als möglichen Grund für den Fall von Kannibalismus.
Das wiederum könnte indirekt mit dem modernen Menschen zusammenhängen: Denn selbst wenn dieser zu jener Zeit noch nicht in der Nähe der Goyet-Höhle lebte, dürfte die Besiedlung des europäischen Kontinents zum Zeitpunkt des Massakers schon begonnen haben. Denkbar sei, so die Forscher, dass der Druck auf die Neandertalerpopulation schon so zugenommen habe, dass sich dies in Form territorialer Konflikte auswirkte.
Fundort der Knochen: Die Goyet-Höhlen in Belgien
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