In den Achtzigerjahren sah die sogenannte Alterspyramide in Deutschland gar nicht aus wie eine Pyramide, eher wie ein etwas zerrupfter Weihnachtsbaum: unten breit, dann ein paar Dellen, oben spitz. 2025 sieht sie aus wie ein dicker Mann mit Hut, der die Hände in die Hüften stemmt, die Ellenbogen nach außen gestreckt.
In den nächsten Jahren werden die ausgestellten Ellenbogen immer weiter nach oben wandern. Wenn die Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge 1950 bis etwa 1970 (in den USA endet die »Boomer«-Kohorte schon 1965) sämtlich nicht mehr arbeiten, müssen weniger Arbeitende die Renten für mehr Rentnerinnen und Rentner erwirtschaften. In den nächsten 20 Jahren wird dieses Problem besonders ausgeprägt sein.
Dem politisch zu begegnen, etwa mit einem niedrigeren Rentenniveau, ist schwierig: 2023 waren die 55- bis 75-Jährigen in Deutschland diejenigen mit den größten Vermögen. Die Leute, die schon in Rente sind oder bald in Rente gehen, sind den größten Wohlstand gewohnt, den es in der Bundesrepublik Deutschland je gab. Diese Leute wollen, ja erwarten, dass das so weitergeht. Und sie sind die mächtigste Wählergruppe im Land: Mehr als 42 Prozent der Wahlberechtigten hierzulande sind derzeit über 60. Alle über 50 zusammengenommen haben eine komfortable absolute Mehrheit .
Zuwanderung macht die Lücke kleiner
Man könnte die Renten natürlich trotzdem kürzen. Man könnte sie auch anders finanzieren. Doch Maßnahmen wie mehr Eigenleistung, Aktienrente und so weiter bringen alle ihre eigenen Probleme. Man kann mit Zuwanderung dafür sorgen, dass nicht nur die Lücken im Rentensystem, sondern auch die im Arbeitsmarkt gefüllt werden. Oder, was allerdings erst in frühestens 20 Jahren eine ökonomische Wirkung entfalten würde: Man kann die stetig sinkende Geburtenrate wieder steigern.
Klar ist aber: Zuwanderung wird unerlässlich sein. Sie wird das Rentenproblem nicht allein lösen können, aber ohne Zuwanderung wird es auf keinen Fall gelöst. Schon, weil Deutschlands Bevölkerung ohne Zuwanderung schlicht schrumpfen würde . Die jüngste große Studie zum Thema wurde diesen Sommer veröffentlicht. Sie stammt von dem Bochumer Wirtschaftswissenschaftler Martin Werding und kommt zu diesem Schluss : »Eine anhaltend hohe Nettozuwanderung führt definitiv zu einer wesentlichen Reduktion der demografiebedingten Tragfähigkeitslücke.«
Die Studie, die der AfD gefiel
Eineinhalb Jahre zuvor hatte eine Studie des Ökonomen Bernd Raffelhüschen das Gegenteil ergeben: Zuwanderung würde demnach enorme Kosten verursachen. Die AfD feierte. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Studie aber wiesen Kollegen Raffelhüschens darauf hin, dass die von ihm verwendete Methode, die sogenannte Generationenbilanzierung, diverse Annahmen und Bewertungen enthält, die einfach nicht zur Realität passen.
Ein Beispiel aus der Feder von Marcel Fratzscher , Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin: »Eine Pflegekraft, die sich um alte und kranke Menschen kümmert, ist nach der Logik der Studie ein finanzielles Verlustgeschäft für Deutschland und würde daher besser das Land verlassen oder wäre gar nicht erst gekommen.« Der Denkfehler: Eine Pflegekraft verdient tendenziell zwar etwas weniger als der Durchschnitt. Deshalb wird sie im Laufe ihres Lebens mehr Leistungen vom Staat in Anspruch nehmen, als sie durch Abgaben und Steuern zahlt. Viel größer als dieses Minus für die Volkswirtschaft wäre allerdings der Schaden, wenn die Pflegekraft gänzlich fehlen würde – und sich etwa Angehörige mehr kümmern und weniger arbeiten. Es gibt noch weitere Kritikpunkte.
Martin Werding kam mit einer anderen Methode, der Tragfähigkeitsanalyse, nun zu dem Schluss, dass Zuwanderung Deutschland wirtschaftlich stärkt. Die Analyse erscheint weniger angreifbar. Und in jedem Fall benötigt der Arbeitsmarkt dringend Zuwanderung.
Wie wäre es mit einem Babyboom?
Dass Fortpflanzung die Rentenlücke schließt, erscheint derzeit sehr unwahrscheinlich. In Europa gibt es tendenziell Jahr für Jahr einen höheren Anteil an Singles. In Deutschland liegt der Single-Anteil an der erwachsenen Gesamtbevölkerung bislang bei relativ konstanten knapp über 20 Prozent . Die Geburtenraten aber sinken, derzeit sogar relativ dramatisch . 1964 wurden in Deutschland etwa doppelt so viele Kinder geboren wie 2024, bei einer damals wesentlich kleineren Bevölkerung.
Der Gedanke, dass Menschen aus dem Ausland die Lücke teilweise füllen, ist vielen auf der radikalen Rechten offenbar zuwider. Rational ist das kaum zu erklären.
Die ganz Extremen agitieren in vielen Staaten gar mit Verschwörungstheorien gegen eine eigentlich nützliche Zuwanderung in die Sozialsysteme. Die sinkende Geburtenrate gehöre zum »Bevölkerungsaustausch«, in seiner internationalen Version »Great Replacement« genannt, oft auch antisemitisch konnotiert. »Jews will not replace us!«, skandierten US-Rechtsextreme 2017 in Charlottesville, Virginia. An diese Hypothese knüpfen auch die AfD-Politiker und Techmilliardär Elon Musk an.
Die Vorstellung, dass Leute aus anderen Ländern, womöglich mit anderer Hautfarbe, anderen Essgewohnheiten, anderen religiösen Vorstellungen, in unser Land kommen und sich dann stärker vermehren als »wir«, ist ein entscheidender Grund für den Erfolg all der rechtsradikalen und rechtsextremen Parteien in Europa. Der Fremde kommt nicht mehr und erobert unsere Länder mit Feuer und Schwert, er kommt und macht Kinder. Dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zunimmt, gerade bei den Jungen, gilt vielen als problematisch.
»Völkisch«, das ist immer fiktional
Die Nazis hatten auf diese Angst eine bekannte Antwort: ein Kind für den Führer. Weiße, arische Babys, keine schwarzen, braunen oder gar jüdischen. Ganz tief unter der Angst vor der kulturellen »Überfremdung« durch Zugewanderte liegt immer Rassismus: die Vorstellung, dass es so etwas wie ein genetisch abgrenzbares, schützenswertes »Volk« gibt.
Das ist, wenn man in Europa lebt und in Geschichte aufgepasst hat, erkennbar unsinnig: Unsere Sprachen und Kulturen bestehen nicht umsonst aus römischen, germanischen, angelsächsischen, griechischen, türkischen, arabischen, persischen Einflüssen (und so weiter), in uns allen stecken, in wechselnder Kombination, Wikinger-Gene, Langobarden-Gene, Hugenotten-Gene, römische Gene, Turkvolk-Gene, osmanische Gene, Hunnen-Gene, nordafrikanische Gene, irische Gene und so weiter. Die Anwesenheit nordafrikanischer Herrscher in Spanien und Sizilien ist schon eine Weile her, die Völkerwanderung noch länger, das Römische Reich noch etwas länger. Das ändert nichts daran, dass die Vorstellung genetisch homogener »Völker« in Europa schon immer eine groteske Idee war. Europa war immer ein Schmelztiegel.
Silicon Valley und christliche Fundamentalisten
Ausgerechnet im »Melting Pot« USA erlebt nun die alte Idee, dass man sich unbedingt fortpflanzen müsse, um die »weiße Rasse« zu erhalten, eine Wiedergeburt. Im südlichen Afrika sozialisierte weiße Milliardäre wie Peter Thiel oder Elon Musk sind ganz besessen davon, das globale Bevölkerungswachstum bloß nicht abebben zu lassen. Dabei vereinigt sich marktradikale Wachstumslogik mit rassistischen Motiven: Die Bevölkerung muss wachsen, weil nur Bevölkerungswachstum Wirtschaftswachstum garantiert. Oft klingt aber heraus: Es soll die richtige Bevölkerung wachsen, sprich: die mit der richtigen Hautfarbe.
Musk scheint besessen von der (erfundenen) Geschichte eines »white genocide«, eines vermeintlichen Völkermordes an den Weißen in seiner Heimat Südafrika. Donald Trump bietet weißen Südafrikanern »Asyl« an. Musk, Thiel, der Virtual-Reality-Unternehmer Palmer Luckey, der Investor Marc Andreessen und andere wollen unbedingt, dass (weiße) Frauen in den USA bitte schleunigst wieder mehr Kinder bekommen. Unterstützt werden sie von Donald Trumps Vizepräsidenten JD Vance und auch dem Präsidenten selbst, der gelegentlich kostenlose künstliche Befruchtungen verspricht.
»The Handmaid’s Tale«, aber als Utopie
Auch Trumps evangelikale und mormonische Wähler können sich hervorragend mit einer Welt anfreunden, in der weiße Frauen möglichst viele weiße Kinder zur Welt bringen. Ein wenig wie in der Serie »The Handmaid’s Tale«, aber nicht als Dystopie, in der Frauen als Gebärmaschinen dienen, sondern als Zukunftsplan. Ähnlich sehen das die vielen MAGA-Katholiken, denen der aktuelle Papst zu »links« ist . Doch außer Appellen und Abtreibungsverboten haben die Republikaner familienpolitisch wenig im Angebot.
Tatsächlich haben sich die meisten Bemühungen, mit politischen Maßnahmen Geburtenraten zu steigern, als weitgehend ineffektiv erwiesen. Trump verspricht jetzt sogar Geburtsprämien , in Südkorea gibt es bereits welche (fast 20.000 Euro pro Kind, über acht Jahre, das Land hat die weltweit niedrigste Geburtenrate). Aber der große Geburtenboom bleibt weiterhin aus.
Kluge Antworten auf das wachsende Problem einer fairen Altersvorsorge werden dringend gebraucht. Rassistisch motivierte Geburtenförderung aber ist weder zielführend noch erfolgreich. Selbstverständlich fordert die AfD trotzdem eine »höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung«, als »einzig tragfähige Lösung« für unsere demografischen Probleme. Auch sogenannte Trad Wives , Influencerinnen, die für ein Kinder-Küche-Kirche-Frauenbild werben, stehen teilweise für dieses Weltbild.
So etwas wie die »Natalcon« in Texas aber, wo sich (überwiegend männliche) Fortpflanzungsfans aus dem Silicon Valley mit christlich-fundamentalistischen Großfamilien und unfreiwillig kinderlosen Rechtsradikalen treffen, gibt es bei uns bisher nicht. Und hierzulande halten die Kirchen gottlob weiten Abstand zur AfD.
Vielleicht haben wir ja Glück, und dieser Trend aus den USA bleibt uns ausnahmsweise erspart. Unsere Rentenprobleme müssen wir in jedem Fall anders lösen.