Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck fordert einen entschlosseneren Kampf gegen Antisemitismus, auch wenn dieser aus dem arabischen Raum oder von der politisch linken Seite kommt. »Wir haben seit Jahrzehnten eingeübte Abwehrreflexe gegenüber rechts – das ist gut«, sagte der 85-Jährige dem »Tages«. Die Beschäftigung mit Antisemitismus etwa aus dem arabischen Raum sei jedoch lange vernachlässigt worden, »wo es völlig normal sein kann, mit antisemitischen Vorstellungen aufzuwachsen«.
Angesichts der steigenden Zahl antisemitischer Vorfälle im Land, auch unabhängig vom rechtsextremen Milieu, sagte der frühere DDR-Bürgerrechtler: »Unser Grundgesetz verbietet weder Dummheit noch Niedertracht.« Negative Haltungen würden nicht einfach verschwinden, »egal ob sie bodenständig sächsisch oder thüringisch oder arabisch oder türkisch sind«.
Manche hätten auch Probleme, über linken Antisemitismus in Deutschland zu sprechen. »Egal wo Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit herrühren: Wir brauchen mehr Entschlossenheit beim Schutz der Menschenwürde«, sagte er.
Netanyahus Politik: Arrogante Sicht auf palästinensische Bevölkerung
Gauck übte zugleich Kritik am Vorgehen der Regierung unter Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in Gaza. »Natürlich war Israels Verteidigung nach den mörderischen Attacken der Hamas am 7. Oktober gerechtfertigt, aber die Art der Kriegsführung überschreitet das Maß dessen, was ich akzeptieren kann«, sagte das ehemalige deutsche Staatsoberhaupt. Er würde in Israel gern Freunde treffen. »Aber insbesondere die Parteien am rechten Rand, auf die sich Netanyahu stützt, mit einer arroganten Sicht auf die palästinensische Bevölkerung, erzeugen bei mir einen solchen Widerwillen, dass ich froh bin, nicht hinfahren zu müssen.«
»Wenn ich das sage, geht es mir ans Herz. Und gleichzeitig frage ich mich immer: Darf ich das sagen, als jemand, der mit Israel befreundet ist?« Er wisse indes auch, dass viele seiner Freunde in Israel unzufrieden mit dieser Politik seien. Er habe große Achtung vor denen, die für den Rechtsstaat, Freiheit und Demokratie kämpften.
Israel etwa beim Eurovision Song Contest (ESC) auszuschließen, halte er für falsch, sagte Gauck – ebenso wie Boykotte, die israelische Wissenschaftler und Künstler beträfen. »Ich halte das für eine falsche Strategie, zumal viele der Betroffenen Gegner der Politik Netanyahus sind.«
Begriff Genozid nicht passend
Mit Blick auf die Debatte über die Einsätze der israelischen Armee im Gazastreifen warnte Gauck davor, diese mit Völkermord gleichzusetzen. »Genozid ist ein sehr spezifischer Begriff – die planvolle Vernichtung einer Gruppe aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität oder anderer Merkmale.« Das treffe auf den Holocaust zu, die von den Nationalsozialisten betriebene Ermordung der europäischen Juden. In der aktuellen Situation würde er den Begriff nicht nutzen, so der Altbundespräsident. »Kriegsverbrechen, die Verletzung rechtlicher Normen überhaupt oder unverhältnismäßige militärische Gewalt und Zerstörung müssen benannt und kritisiert werden, aber wir sollten den Begriff Genozid nicht inflationär verwenden.«
Auslöser des Gazakriegs war das Massaker der Hamas und anderer Terroristen in Israel, bei dem am 7. Oktober 2023 etwa 1200 Menschen getötet und mehr als 250 verschleppt wurden. Danach wurden bei massiven israelischen Angriffen im Gazastreifen nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 68.500 Menschen getötet. Seit dem 10. Oktober gilt offiziell eine Waffenruhe im Gazakrieg, die aber brüchig ist.
»Deutsche können Freiheit«
Mit Blick auf den Mauerfall am 9. November 1989, der sich morgen jährt, sagte Gauck, »allzu viele vergessen, dass Freiheit das Zentrum unseres Selbstverständnisses sein sollte«. Dass die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland damals fiel, machten aus seiner Sicht die friedlichen Demonstrationen in der damaligen DDR möglich. Für viele Aktive von 1989 sei sogar der 9. Oktober der bewegendere Moment gewesen. »Der Tag der ersten großen Massendemonstration in Leipzig, die nicht gewaltsam beendet wurde. Da zeichnete sich ab, dass wir gewinnen konnten. Das war ein Signal: Deutsche können Freiheit. Das müssen wir uns auch heute immer wieder sagen.«
Nur weil die Menschen auf der Straße gewesen seien, »wurde die Mauer hinfällig«, betonte der einstige DDR-Bürgerrechtler. »Ohne die Menschen auf der Straße wäre es heute im Osten vielleicht wie auf Kuba.« Als er damals von der Maueröffnung erfahren habe, sei er emotional geworden, »da kullerten die Tränen«.