Als Nicole Anyomi nach ihrem Traumtor aus rund 15 Metern gegen Frankreich vor den TV-Mikrofonen stand, klang die DFB-Stürmerin, als habe alles genau so kommen müssen. Sie habe sich schon vor dem Halbfinal-Rückspiel in der Nations League vorgenommen: Sobald sie am Strafraum mit Ball stehe, wolle sie schießen. »Das macht man viel zu selten«, sagte sie.
Ein Satz, der stimmt, aus gutem Grund. Denn würde man solche Schüsse tatsächlich öfter wagen, säßen wohl bald einige Spielerinnen auf der Bank. Denn Schüsse wie dieser fliegen nur selten so präzise und kraftvoll ins Toreck wie jener von Anyomi in der zwölften Minute.
Am Ende reichte das 1:0 aus dem Hinspiel und jetzt das 2:2 in Frankreich, um ins Finale einzuziehen. Dort treffen die Deutschen in einem Monat auf Spanien, in zwei Spielen geht es um den Titel der Nations League. Den letzten großen Titel gab es bei Olympia 2016.
Die deutschen Fußballerinnen setzen damit ihren Aufwärtstrend seit der EM fort, als sie bis ins Halbfinale vordrangen. Und sie wirken an einigen Stellen verändert, verbessert. Drei Beobachtungen, was sich seit der Endrunde in der Schweiz getan hat.
Anyomi ist die Idealbesetzung im Sturm
Anyomi, 25, hätte hinter ihrem ohnehin starken Abend im französischen Caen fast noch ein weiteres Ausrufezeichen gesetzt. In der zweiten Hälfte nahm sie einen Pass von Klara Bühl elegant an und schob den Ball zum vermeintlichen 3:1 ins Netz. Doch die Szene wurde wegen einer knappen Abseitsstellung von Bühl zurückgepfiffen, das DFB-Team musste bis in die Schlussminuten zittern.
Anyomi ist nach den beiden Partien gegen Frankreich trotzdem die große Gewinnerin. Schon im Hinspiel setzte die Frankfurterin einige Akzente, das entscheidende Glück stellte sich jedoch nun im Rückspiel ein.
Mit Anyomi auf dem Platz verändert sich das deutsche Spiel. Im Gegensatz zu der aktuell verletzten Sturmkollegin Giovanna Hoffmann arbeitet sie nicht nur gegen den Ball, sondern weiß ihre Qualitäten auch im Offensivspiel einzubringen. Anyomi kann den Ball halten, sie kann den Ball verteilen und ist gefährlicher vor dem Tor. Nicht umsonst war sie in der vergangenen Bundesliga-Saison mit 14 Treffern und neun Vorlagen die erfolgreichste Scorerin der Liga.
Ihren Einfluss auf das DFB-Team hätte man gern schon während der EM gesehen, doch Anyomi verzichtete aufgrund anhaltender Knieprobleme freiwillig auf eine Teilnahme. Vor der EM hatte sie unter Bundestrainer Christian Wück zudem nur eine Nebenrolle gespielt, worüber sich Anyomi öffentlich beklagte.
Dabei sind Wück und Anyomi eigentlich ein gutes Match.
Wück sucht nach spielerischen Lösungen, will sich am spanischen Fußball orientieren, der als Aushängeschild gilt. Die Idealbesetzung im Sturm für seine Philosophie hatte er bislang nicht. Lea Schüller ist eher ein klassisches Sturmphantom (taucht fast das gesamte Spiel ab und trifft trotzdem oft), Giovanna Hoffmann steht für kämpferische Momente.
Seit ihrem Debüt im Nationaltrikot im Jahr 2021 sucht Anyomi nach ihrer Rolle im DFB-Team. Oft wurde sie als Einwechselspielerin eingesetzt, mal auf dem Flügel, mal als Außenverteidigerin. Manchmal wirkte sie übertrieben nervös, manchmal überspielt. Nie war sie so stark wie im Eintracht-Trikot. Doch jetzt, mit der Rolle im Zentrum, könnte ihr der Durchbruch gelungen sein.
Verbindungsfrau Brand
Linda Dallmann und Laura Freigang waren für die Rolle der Spielmacherin bei der EM fest eingeplant, durften sich vor allem in der Vorrunde beweisen – um am Ende als die Schwachstellen des Turniers zu gelten. Eine Turnieranalyse des DFB ergab: Kein einziger Pass der beiden landete im gegnerischen Strafraum. Ihren Auftrag hatten sie klar verfehlt.
Mit dem Halbfinalduell gegen Frankreich begann deswegen das Experiment: Jule Brand, eigentlich auf dem Flügel zu Hause, rückte stärker ins Zentrum. Nicht ganz auf die Zehn, eher knapp dahinter, als Verbindung zwischen Defensive und Offensive. Von hier rückte Brand mal nach vorn, mal zurück.
Bundestrainer Wück wollte dem Kombinationsspiel der Deutschen damit auch mehr Präzision verleihen. Brand freute sich über die Umstellung. Im Zentrum habe sie mehr Platz und Zeit, um ihre Pässe zu spielen, sagte die 23-Jährige. Tatsächlich fiel sie in Verbindung mit Anyomi auf. Der schöne Anyomi-Fernschuss zum 1:0 entstand beispielsweise nach einem Pass von Brand. Vielleicht entsteht hier gerade ein neues Traumduo im DFB-Trikot.
Brand ist inzwischen aber längst mehr als ein Feingeist. Bei der EM konnte man eine erstaunliche Entwicklung bei ihr feststellen: Die Arbeit, Aufmerksamkeit und Härte beim Spiel gegen den Ball, die ihr lange abgesprochen wurde, setzt sie seit der Endrunde viel stärker ein. Und das tat sie nun auch gegen Frankreich.
Für Brand und das DFB-Team wäre es gewinnbringend, wenn sie jetzt auf der neuen Position Spielpraxis und Sicherheit sammeln würde. Doch bei ihrem neuen Verein Olympique Lyon kommt sie bisher nur unregelmäßig zum Einsatz.
Große Stadien? Kein Problem mehr
Knapp 25.000 Zuschauer verloren sich auf den Rängen, dabei hätte das Stadion sogar 30.000 Menschen fassen können. Dass ein Länderspiel einer A-Nationalmannschaft nicht ausverkauft ist – ein seltener Anblick. Doch genau so geschah es in Sinsheim beim Aufeinandertreffen von Deutschland und Luxemburg vor rund drei Wochen. Und es war ein Männerspiel.
Leere Tribünen, dieses Bild kannten jahrzehntelang vor allem die DFB-Frauen. Lange Zeit verschwanden die Nationalspielerinnen auf die Nebenplätze der Republik, spielten in Provinzstadien, oft zu Anstoßzeiten fernab der Primetime. Exemplarisch: Gleich nach dem WM-Hype 2019 traten die deutschen Frauen in Kassel an, samstags um 12.30 Uhr, vor 6000 Menschen.
Diese Zeiten sind vorbei. Beim Nations-League-Hinspiel gegen Frankreich in Düsseldorf kamen 37.191 Fans. Kurz vor der EM in der Schweiz bejubelten rund 32.000 Menschen das Team bei einem Länderspiel gegen die Niederlande in Bremen. Und das Hinspiel des Endspiels in der Nations League gegen Spanien findet in Kaiserslautern im legendären Fritz-Walter-Stadion statt, eine Kulisse von fast 50.000 Zuschauern ist möglich.
Das Interesse am Fußball der Frauen ist keine Eintagsfliege mehr. Das hat der DFB nun verinnerlicht. Nicht mehr nur die großen Turniere sorgen für Begeisterung, die Begeisterung wird zur Regel.
Ein ausverkauftes Fritz-Walter-Stadion am 28. November gegen Spanien (20.30 Uhr) könnte die Uefa womöglich beeindrucken. Diese vergibt rund eine Woche später die Fußball-EM 2029. Einer der Bewerber ist Deutschland.
Anyomi: Das Sturmzentrum gehört nun ihr
Foto: Stephane Mahe / REUTERSBrand: Hält den Ball, spielt den Ball, kämpft um den Ball
Foto: Hendrik Gräfenkämper / Jan Huebner / IMAGOZu Gast in Düsseldorf: Die Begeisterung wird zur Regel
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