Den Tag hätte ich am liebsten direkt gestrichen: zu spät an den Schultoren nach einem stressigen Arbeitstag, die Kinder schon beim Abholen schlecht gelaunt. Mein Einjähriger taumelte von einem Wutanfall zum nächsten, schubste beim Abendessen die Butter auf den Boden, goss die Milch aus. Der Mittlere zettelte Streit an, der Großen war die Lautstärke zu viel. Ich gab das Abendessen schließlich auf, setzte mich auf den Teppich und begann laut vorzulesen.
Eins nach dem anderen sammelten sie sich um mich. Sogar der Kleinste, der anfangs noch mit rotem Kopf umher stampfte, wurde schließlich ruhig und legte sich auf meinen Schoß. Ich streichelte ihn, während ich weiter las. Als sich der Schlüssel in der Haustür drehte, bemerkten die Kinder nicht, dass ihr Vater nach Hause gekommen war. Er fand mich mit einem schlafenden Kleinkind auf dem Schoß, die beiden Älteren neben mir auf dem Teppich liegend, der Geschichte lauschend.
Ich hatte einfach weitergelesen und die Normalität – Tisch abräumen, Zähneputzen, Aufräumen – ignoriert. In diesem Moment hat mich das Vorlesen gerettet, wieder einmal.
Seit ich selbst ein Kind war, sind Bücher mein Glück, mein Trost und mittlerweile auch hilfreich in allen möglichen Situationen des Elternseins. Als Kind lief ich durch den »Geheimen Garten«, nahm am Mitternachtspicknick in englischen Internaten teil, begab mich mit »Fünf Freunden« auf Schmugglerjagd und verkaufte mit »Pünktchen und Anton« Zündhölzer im nächtlichen Berlin. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Vater uns vier Kindern vorlas. Manchmal setzte er sich abends in den Flur, der die Kinderzimmer verband, und las laut durch die geöffneten Türen in die Dunkelheit der Zimmer, in denen alle angewiesen waren, den Kopf auf das Kissen zu legen und zuzuhören.
Es macht einen Unterschied, ob Kinder mit Geschichten groß werden. Meine Mutter erzählte mir einmal ihre schönste Kindheitserinnerung: Als älteste Tochter auf dem Bauernhof musste sie in den Sechzigerjahren viele Arbeiten im Haushalt übernehmen. Ihr Vater brachte eine kleine Leiste über dem Spülbecken an, auf die sie ihr Buch legen und lesen konnte, während sie täglich das Geschirr von acht Menschen abwusch. Ihre Leidenschaft fürs Lesen führte dazu, dass ich in einem Haus voller Bücher aufwuchs – und das wiederum dazu, dass ich heute selbst mit meinen Kindern lese.
Ich lese mit meinem Einjährigen genauso wie mit meiner Neunjährigen, denn ich glaube, auch Schulkinder sind nicht zu groß für das Vorlesen. Natürlich können Acht-, Neun- und Zehnjährige schon selbstständig lesen, aber oft reicht die Fantasie weiter als das Lesevermögen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass selbst diejenigen, die vermeintlich keine Leser und Leserinnen sind, nicht widerstehen können, bei spannenden Geschichten wie »Harry Potter« oder »Eragon« zuzuhören.
Babys oder kleine Kinder wiederum haben eine ganz eigene Art zu lesen. Sie bleiben nicht still sitzen, wollen Bücher nicht von vorn nach hinten blättern und sind oft von Details fasziniert. Eines meiner Kinder wollte immer und immer wieder eine Seite mit einem Unfall lesen, starrte minutenlang auf ein gezeichnetes, eingedelltes Auto und murmelte »putt«. Ein anderes konnte »Grüffelo« sagen, bevor es seinen ganzen Namen nennen konnte. Mein Einjähriger steuert in seinem Bilderbuch zielstrebig eine Seite mit einer Kuh an, den Rest der Geschichte will er nicht lesen. Wenn er diese Stelle zum x-ten Mal am Tag aufschlägt, muhen wir zu seiner Entzückung durchs Haus. Ist das nun Literatur?
Ich glaube, es ist sogar größer als das. Für mich ist es eines der wenigen Mittel, die im Elternalltag verlässlich funktionieren: Abschiedsschmerz beim Jüngsten, wenn ein Elternteil das Haus verlässt? Vorlesen. Angespannte Stimmung nach einem Geschwisterstreit? Eine Geschichte vorlesen, die beide spannend finden. Nicht einschlafen können? Vorlesen. Über schwierige Sachen mit großen Kindern sprechen? Wie zufällig ein Buch lesen, das einem das Gefühl gibt, damit nicht allein zu sein.
Man könnte meinen, wenn ich ihnen vorlese, lernen sie etwas über Literatur. Doch in Wirklichkeit lernen sie etwas anderes: Es gibt unendlich viele Geschichten auf der Welt, und ein paar Seiten reichen aus, um drin zu sein in einer anderen Welt. Und vor allem lernen sie: Selbst einen scheußlichen Tag kann man noch drehen.
Buchtipp der Woche
Das Buch, das wir mit unseren Butterbroten auf dem Boden sitzend lasen, war »Und plötzlich war Frau Honig da« von Sabine Bohlmann. Es erzählt von einer Familie, die nach dem Tod der Mutter aus dem Gleichgewicht geraten ist. Der Vater ist mit seinem Beruf und den vier Kindern überfordert: Die zwölfjährigen Zwillinge, das achtjährige Mädchen und der fünfjährige Junge verbringen ihre Zeit oft allein, hängen vor Fernseher und Computer – gemeinsame Familienmomente gibt es kaum noch.
Doch eines Tages steht plötzlich Frau Honig vor der Tür – ein Kindermädchen mit gelben Strümpfen und viel Humor, das behauptet, von einer Vermittlungsstelle für überforderte Familien zu kommen. Wie eine Mary Poppins der Gegenwart, eine wunderschöne Geschichte, mit viel Humor und ohne Kitsch.
Aber nun hätte ich gern Ihre Hilfe: Welche Bücher haben Sie Ihren Kindern vorgelesen, welche wurden bei Ihnen zu Hause geliebt? Schreiben Sie mir Ihre Tipps und Lesegeschichten an familiennewsletter@.de .
Meine Lesetipps
Das Interview, das Silke Fokken mit Literaturprofessorin Cornelia Rosebrock führte, ist schon etwas älter, aber immer noch sehr lesenswert. Rosebrock erklärt darin anschaulich, warum Vorlesen für Kinder so wichtig ist: »Im Alltag ist Sprache meist an eine konkrete Situation gebunden. Zum Beispiel: Die Mutter sagt zum Kind: »Beeil dich«. Schriftsprache hingegen ist unabhängig von der konkreten Situation, in der sich Kinder gerade befinden. Deshalb ist Vorlesen so wichtig. Da beschäftigen sich Kinder mit Sprache, die in keinem Zusammenhang zu dem steht, was sie gerade umgibt.« Außerdem gibt Rosebrock viele praktische Tipps, etwa den, den ich selbst beherzige: Erstlesebücher sind oft zu schlicht und wenig spannend, daher lohnt es sich, Kindern auch dann noch vorzulesen, wenn sie schon selbst lesen können.
Wer bei Amazon nach Kinderliteratur sucht, findet mittlerweile Bücher mit merkwürdigen Covern und schlecht geschriebenen Texten. Bei dem Onlinehändler gelten sie als Bestseller – obwohl sie KI-generiert sind. Mein Kollege Pelle Kohrs erklärt , wie die Masche funktioniert und warum man von diesen Geschichten besser die Finger lassen sollte.
Kommende Woche erscheint der neue DEIN SPIEGEL, das Kindermagazin des SPIEGEL. Darin gibt es monatlich Büchertipps – aber nicht nur: In der neuen Ausgabe geht es um Spiele. Die Redaktion hat getestet, welche es wert sind, auf PC, Konsole oder Handy installiert zu werden. DEIN SPIEGEL erscheint am Dienstag.
Zum Schluss möchte ich noch diesen Essay meines Kollegen Markus Deggerich empfehlen. Er denkt darüber nach, wie ein möglicher Wehrdienst das Leben seiner Kinder verändern würde. Mich hat es nachdenklich gemacht, wie er darüber schreibt, dass er mit seinen Töchtern anders über Gewalt spricht als mit seinen Söhnen: »Starke Frauen sind wehrhafte Frauen. Und Täter suchen ja oft Opfer – keine Gegnerinnen.«
Mein Moment
In meinem letzten Newsletter schrieb ich über Elternfreundschaften. Newsletter-Leserin Margo schickte daraufhin diese Geschichte:
»Mein Kind — inzwischen im Abitur — musste ich wegen ungeplanter Fernbeziehung weitgehend allein erziehen. Ich hatte ein wunderbares Netzwerk von engen Freunden, Nachbarn, entfernteren Verwandten und Tagesmüttern, die geholfen haben. Aber an eine Begebenheit erinnere ich mich ganz besonders. Eine Freundin war mit ihrem gleichaltrigen Sohn, damals drei, zu Besuch. Die Kinder hatten mehrere Stunden intensiv gespielt, während wir geplaudert hatten. Dementsprechend war das Wohnzimmer voller Spielsachen, Bauklötzen, Büchern und Requisiten, die die Kinder aus der ganzen Wohnung zusammengeholt und ausgebreitet hatten. Es wurde Abend, die Kinder müde und somit Zeit zum Aufbruch. Ganz selbstverständlich begann meine Freundin, beim Plaudern Dinge zurück in Kisten zu legen, Bücher zu stapeln, Bauklötze zu sortieren, aufzuräumen.
Und mir wurde in dem Moment klar, dass nur eine Elternfreundin das tun würde, was mich fast zu Tränen rührte. Alle anderen Unterstützer, inklusive des Vaters, übergaben mir nach einem Babysitting ein zufriedenes und gut versorgtes Kind, aber auch eine fröhlich verwüstete Wohnung, die ich ganz selbstverständlich wieder allein instand setzte. Das war okay, das ist nun mal eine der Realitäten der Alleinerziehenden. Und ich konnte doch an der Spur der Verwüstung lesen, wie sie die Stunden meiner Anwesenheit verbracht hatten, welche Spiele gespielt worden waren, was gegessen und getrunken wurde. Aber es ging nach meiner Rückkehr nie um mich oder mein Wohlergehen, es ging ums Kind. Diese kleine solidarische Geste meiner Freundin, dass man eine Mutter nicht allein die Spuren eines Spielnachmittags aufräumen lässt, werde ich nie vergessen.«
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!
Herzlich
Ihre Antonia Bauer
Vorlesen hilft!
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