Forscher werfen Statistikamt Kleinrechnung von Armutsquote vor

An der Frage, welche Daten in eine Statistik einfließen sollen, streiten sich seit jeher die Geister. Das liegt in erster Linie daran, dass bereits die Drehung an kleinen Stellschrauben genügt, um die Grundaussage der jeweiligen Statistik entscheidend zu verändern.

Jüngstes Beispiel für dieses Dilemma ist die Änderung in der Erfassung der Armutsquote, die das Statistische Bundesamt jüngst vorgenommen hat. Bislang wurden Armutsquoten demnach anhand zweier Methoden berechnet – der sogenannten MZ-Kern-Methode und der EU-/MZ-SILC-Methode. MZ-Kern oder Mikrozensus-Kern verwendet Daten einer umfangreichen jährlichen Haushaltsbefragung. EU-/MZ-SILC greift auf Daten der EU zurück.

Einer Gruppe von 30 Armutsforscherinnen und -forschern zufolge will das Statistikamt künftig nur noch EU-/MZ-SILC verwenden. Die Behörde begründe dies mit einer EU-weiten Vergleichbarkeit und einer zuverlässigeren Einkommenserfassung, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Die Gelehrten vermuten aber, dass sich hinter der Veränderung der Datenbasis ein politisches Anliegen verbirgt. Das Statistische Bundesamt wolle die Armutsquote in Deutschland kleinrechnen. In einem am Donnerstag bekannt gewordenen Protestbrief an Behördenpräsidentin Ruth Brand beklagen sie, dass das Statistikamt zudem die Ergebnisse der anderen Methode rückwirkend von ihrer Homepage gelöscht hat.

Nach der verbliebenen Berechnungsmethode habe die Armutsquote deutschlandweit 2023 bei 15,5 Prozent gelegen, nach der nun gelöschten aber bei 16,6 Prozent, sagte der Mitunterzeichner des Protestbriefs und langjährige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. »Das heißt, nach den nun nur noch ausgewiesenen Zahlen ist die Armut mal eben um mehr als eine Million Menschen geringer.«

Schneider sprach von einem »brisanten« Vorgang. »Da drängt sich da schon die Frage nach Manipulation oder doch zumindest einem interessengeleiteten Vorgehen auf.«

Die Forschenden bewerten die Entscheidung des Statistikamts in ihrem Brief als »einen nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit«. Sie fordern Behördenchefin Brand auf, den Schritt wieder rückgängig zu machen. Unterzeichnet haben den Brief neben Schneider unter anderem der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge und der Kasseler Soziologe Klaus Dörre.

Es gebe »gute Gründe, auf die Quoten von MZ-Kern zurückzugreifen, vor allem wegen der höheren Fallzahlen und der möglichen Veröffentlichung nach sozio-demografischen Merkmalen und Bundesländern«, heißt es im Brief. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner fordern deshalb, »bei der bisherigen transparenten Veröffentlichungspraxis zu bleiben« – und die Armutsquoten auch weiterhin nach MZ-Kern zu berechnen.

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