Internationale Juristen sehen massive rechtliche Risiken auf Unternehmen zukommen, sollte die EU-Lieferkettenrichtlinie wie geplant abgeschwächt werden. Das geht aus einem Brief an Europaabgeordnete und Vertretungen von EU-Ländern hervor.
Die EU-Kommission hatte kürzlich im Rahmen ihrer Maßnahmen zum Bürokratieabbau vorgeschlagen, Artikel 22 der Richtlinie zu ändern. Firmen sollen demnach eigene Klimaschutzpläne nur noch erstellen, aber nicht mehr umsetzen müssen.
Die 31 Autoren des Briefs , darunter Forschende renommierter Universitäten wie Oxford in Großbritannien und Sciences Po in Frankreich, sehen dadurch die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens gefährdet. Das Fehlen eines bindenden Rechtsrahmens würde zudem »direkt zu erhöhten Haftungsrisiken« für Unternehmen führen. Gegen die Energiekonzerne TotalEnergies und ENI, den Autobauer VW und die Banken BNP Paribas und ING liefen bereits Prozesse, in denen es um die Einhaltung des 2015 in Paris vereinbarten Erwärmungsziels von höchstens 1,5 Grad gehe.
Die geplante Verwässerung der Lieferkettenrichtlinie, so die Forscher, würde eine Lücke im EU-Recht schaffen, die von Gerichten in den Mitgliedstaaten gefüllt würde. Das dürfte »noch mehr Rechtsstreitigkeiten« verursachen. Firmen hätten dann mit Unsicherheit und einem »fragmentierten Rechtsrahmen« zu kämpfen.
Die im Juli 2024 in Kraft getretene EU-Richtlinie schreibe Unternehmen nicht vor, bestimmte Klimaziele zu erfüllen, sondern nur, ihre Pläne umzusetzen, so gut sie können. »Das«, so die Autoren, »schafft Rechtssicherheit.«
Die Schwächung der Richtlinie würde das genaue Gegenteil bedeuten, glaubt Thom Wetzer, Juraprofessor der Universität Oxford und Initiator des Briefs. »Unternehmen droht ein Albtraumszenario mit wachsender Rechtsunsicherheit über ihre Klimaschutz-Verpflichtungen.« Das wäre »schlecht fürs Geschäft und für Investitionen.«
Sollte die Richtlinie verwässert werden, rechnet Wetzer mit einer Klagewelle, die nach und nach weite Teile der Wirtschaft erfassen könnte. »Es würde mit den üblichen Verdächtigen aus der Fossilenergie-Branche beginnen, da dies die vielversprechendsten Fälle wären«, so Wetzer. »Danach könnte es Unternehmen aus der Finanzbranche, energieintensiven Industrien und anderen Bereichen treffen.«
Die EU-Kommission wollte keine Stellung zur Kritik der Juristen beziehen. »Wir werden diesen Brief nicht kommentieren«, sagte eine Sprecherin.
Die EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflicht für Nachhaltigkeit in Unternehmen (CSDDD) ist im Juli 2024 in Kraft getreten, die EU-Länder müssen sie binnen zwei Jahren in nationales Recht umsetzen. Im Bundestagswahlkampf war sie zu einem Symbol für überbordende Brüsseler Bürokratie geworden. Insbesondere die Unionsparteien hatten gegen die Regelungen Front gemacht, aber auch der damalige Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck wünschte sich, »die Kettensäge anzuwerfen und das ganze Ding wegzubolzen«.
In der Debatte wurde allerdings nicht immer zwischen dem deutschen Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz und der EU-Richtlinie unterschieden. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz machte bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel vergangene Woche keinen allzu großen Unterschied zwischen beiden Regulierungen. »Wir werden in Deutschland das nationale Gesetz aufheben«, sagte er. »Ich erwarte auch von der Europäischen Union, dass sie diesen Schritt nachvollzieht und diese Richtlinie wirklich aufhebt.«
Ton und Inhalt von Merz' Ansage sorgten in Brüssel für Irritationen. Dort hatten sich EU-Kommission und Europäisches Parlament bereits darauf geeinigt, das EU-Lieferkettengesetz zu verschieben. Eine Abschaffung aber stand nie zur Debatte – und würde wohl auch weder im Parlament noch im Rat der Mitgliedsländer eine Mehrheit finden.
Auch in Berlin stieß der Auftritt des Kanzlers auf Befremden, insbesondere bei der SPD. Denn im Koalitionsvertrag mit der Union steht ebenfalls nichts von einer Abschaffung der EU-Lieferkettenrichtlinie, im Gegenteil: Dort heißt es, man wolle sie »bürokratiearm« umsetzen.
Jurist Wetzer: »Schlecht fürs Geschäft und für Investitionen«
Foto: Frans PeetersKanzler Merz beim Antrittsbesuch bei von der Leyen: Klare Ansage zum Lieferkettengesetz
Foto: Piroschka Van De Wouw / REUTERS