Verspätungen, Versäumnisse oder gar multiples Versagen: Wenn es in solchen Fällen mit einer Partei bergab geht, darf sich kein Politiker beklagen. Erst recht kein bürgerlicher, wenn es noch dazu um Fragen von Asyl und Zuwanderung geht, die ihm besonders wichtig sein müssen, weil sie ja solche von Fremdheit und nationaler Veränderung sind. Wenn die Bürgerlichen an der Steuerung und Kontrolle von Migration also scheitern oder nur wie gescheitert ausschauen, dann ist das besonders schlecht für sie und gut für eine Partei wie die AfD, die sich konservativ und bürgerlich nennt, auch wenn ihr im Charakter absolut alles dazu fehlt.
So weit, so einfach: Ein seit 2015 durchgehend ziemlich verlässlicher roter Faden der AfD-Entwicklung bei Wahlen und in Umfragen ist das Thema Migration. Ist es groß, aus welchen aktuellen Gründen auch immer, dann wächst über kurz oder lang auch die AfD. Ist das Thema nicht präsent, hört die AfD auf zu wachsen oder schrumpft. Was die Kritiker Angela Merkels vollends vergessen haben: Bei der Bundestagswahl 2021 schnitt die AfD schlechter ab als bei der Wahl vier Jahre zuvor. Sie sank von 12,6 auf 10,3 Prozent.
Wegen der Flüchtlingskrise sah es 2015/16 zeitweilig übel nach Kontrollverlust aus , was viele Menschen zur AfD trieb. Aber die letzte Regierung Merkel zerstreute die Kontrollverlust-Angst wieder, zumindest in einigen Teilen der Gesellschaft. Die Zahl der neuen Asylbewerber sank zu der Zeit deutlich. So ist es jetzt wieder. Von Januar bis August wurden weniger als 80.000 Erstanträge gestellt, ein Rückgang um mehr als die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr. Zugleich stehen regelmäßige Abschiebeflüge für afghanische Straftäter wohl kurz bevor, eine wichtige Symbolmarke. Beides ist das Ergebnis von Politik auf allen verantwortlichen Ebenen. Beides hätte kaum jemand für möglich gehalten.
Außer für grüne Träumer und linke Spinner sind die Zahlen eine gute Nachricht. Also ein Grund zur Freude? Na ja, mindestens so sehr kann dem vorausschauenden Konservativen angst und bange werden, denn der wahre Systemtest beginnt ja jetzt erst: Was, wenn handfeste politische Veränderungen wie diese nicht mehr verfangen und die Stimmung an einem neuralgischen Punkt nicht mehr zu drehen vermögen? Was, wenn »Politik wirkt« nichts bewirkt? Das ist keine Wortklauberei, sondern der Unterschied zwischen Fortbestand oder Untergang des bürgerlichen parlamentarischen Systems.
So weit ist es also gekommen: Messbare Erfolge machen vernünftige Leute nervös. Funktioniert das System noch wie früher, als Protest und Abkehr auch wieder abschwollen, wenn zugrunde liegende Probleme und ihre Wahrnehmung adressiert und in gewissem Rahmen bereinigt wurden? Oder ist der Kipppunkt überschritten, und »die da oben« können machen, was sie wollen, es beeindruckt niemanden mehr? Tatsächlich steht die AfD in den Forsa-Umfragen für RTL und n-tv seit Wochen stabil bei 26 Prozent. In Nordrhein-Westfalen konnte sie am Sonntag ihr Kommunalwahlergebnis knapp verdreifachen, auch wenn manche Prognosen sie noch stärker gesehen hatten und sie im Vergleich zur Bundestagswahl an Prozenten verlor.
Einen gewissen zeitlichen Verzug zwischen dem Eintritt messbarer Veränderungen und ihrer erhofften Wirkung hat es zwar auch früher immer gegeben, aber nicht das schon laufende Störfeuer. In der Praxis wird die AfD verschärft versuchen, die objektiven Erfolge zu leugnen und zur Ablenkung die zuletzt stark gestiegene Zahl von Asyl-Folgeanträgen zu skandalisieren. Das lässt sich zwar leicht entkräften: Weil die Taliban die Unterdrückung der Frauen verschärfen, wird ein großer Teil dieser Folgeanträge von afghanischen Frauen gestellt, die hoffen können, ihren hiesigen Schutzstatus deswegen zu verbessern. Sie kommen nicht neu ins Land, sondern sind schon hier. Ferner dürfte die AfD noch mehr Rückgang bei den Zahlen verlangen und das Erreichte für irrelevant erklären, obwohl sie es selbst lautstark gefordert hat.
Auch wenn die Partei erkennbar versucht zu diversifizieren, bleibt Migration ihr zentrales Vehikel, emotional wie programmatisch: Zuwanderung und Flucht zu unterbinden, ist für die AfD die wichtigste Antwort auf nahezu alle Probleme von Armutsangst über Kriminalität bis Wohnungsmangel. Darum werden wir erleben, dass die Kampfzone erweitert wird, wie kürzlich in der »FAZ« vorgezeichnet: »Die jetzt stark gesunkene Zahl der Bewerbungen um Asyl oder Flüchtlingsstatus ist nichts Außergewöhnliches«, lautete der erste Satz eines Leitartikels, der die geordnete Rückkehr von möglichst vielen Syrern in ihre Heimat forderte. Das kann selbstverständlich eine gute Idee sein, wenn dort halbwegs Frieden herrscht und die Leute hier immer noch nicht integriert und ohne Arbeit sind. Aber als Erstes erinnert es an das Spiel der Igel mit dem Hasen: Dass ein Ziel gerade erreicht wird, ist egal. Die nächste Forderung ist schon da.
Unter etwas anderen Vorzeichen läuft in den USA die Debatte schon länger. »The death of deliverism«, der Tod der Politik, die »liefert«, wird anhand der Ergebnisse der Demokraten bei jenen Teilen der unteren Mittelschicht diskutiert, für deren wirtschaftliches Wohl Joe Biden nachweisbar und messbar viel getan hat – die aber trotzdem in Scharen zu Donald Trump abwanderten. Solche »Liefer«-Politik unterstellt in gewissem Maße eine Nachfrage- und Kundenbeziehung zwischen Politik und Wählern, zumeist entlang einer eher nüchternen Kosten-Nutzen-Abwägung. Diese ist womöglich aber aus der Zeit gefallen und wird ersetzt durch mehr bauchgefühlte Bedürfnisbefriedigung entlang von Stichworten wie »Identität« oder »Gruppenzugehörigkeit«.
Liefert eine bürgerliche Politik hier das Passende, wenn sie die Zahlen der Asylsuchenden mit ihren herkömmlichen Mitteln senkt? Kann sie überhaupt etwas liefern, das in diesem Sinne größere Protestgruppen befriedigt, oder ist ihr das dem Wesen nach unmöglich? Die Debatte geht auch hierzulande ins Mark: »Politik, die liefert« ist das zentrale Versprechen aller deutschen Regierungsparteien von Schwarz bis Rot und in Wahrheit auch ihr bislang einziges Rezept gegen die AfD. Wird es jetzt wirken? Ich weiß es nicht.