1. Wird die heilige Kuh geschlachtet?
»Ich kenne Markus Söder als einen realistischen Politiker, der schnell und flexibel auf aktuelle politische Probleme reagiert.« Das ist eine hübsche Umschreibung für einen Filou ohne Grundsätze, der heute dies sagt und morgen das, Hauptsache, der Applaus ist sicher. Ausgerechnet Rainer Dulger, Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) charakterisiert den bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef auf diese Art. Eigentlich stammen beide aus dem gleichen Lager.
Dulger forderte heute, die geplante Erhöhung der Mütterrente zu stoppen (hier mehr). Das Lieblingsprojekt der Christsozialen sei nicht treffsicher, die tatsächlichen Probleme des Rentensystems lägen woanders, sagte Dulger. »Der Staat muss die Mütterrente mit Steuergeld bezahlen – und dieses Geld fehlt dann für Investitionen.« Denn: Für die Leistungen wurden keine oder nur unzureichende Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt, der Staat muss über Bundeszuschüsse Gelder beisteuern. In den vergangenen Jahren flossen mehr als 20 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenversicherung, um die Mutterrente auszuzahlen, insbesondere an Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden.
Die Mütterrente ist der CSU so heilig wie der SPD das Genossen-Du. Nur dass das nichts kostet. Allein die von der CSU im Koalitionsvertrag durchgesetzte Erhöhung verschlingt rund fünf Milliarden Euro pro Jahr, Tendenz nur langsam fallend. Bislang zeigte sich die CSU stur, darüber auch nur zu verhandeln. Viel diskussionsfreudiger war die Partei jedoch bei der Reform des Bürgergelds. Da konnten die Vorschläge nicht radikal genug sein. Im Ergebnis spart das Land nach der Bürgergeld-Reform gerade einmal 1,5 Milliarden Euro – wenn überhaupt.
Solange die Grünen oder die Linken die Mütterrente als »Wahlgeschenke« kritisierten, war Söder das herzlich egal. Mal sehen, ob er nun »schnell und flexibel« reagiert, wenn die eigenen Verbündeten von der Stange gehen.
Lesen Sie hier mehr: Arbeitgeberpräsident fordert Verzicht auf Mütterrente
2. Dämpfer für die Rechten
Zuletzt machten es die Niederländer noch einmal spannend. Am Abend der Parlamentswahl am Mittwoch sah es so aus, als hätte die linksliberale D66 nach ersten Hochrechnungen deutlich gewonnen. Doch je mehr Stimmen ausgezählt wurden, desto mehr holte der Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner Partei für die Freiheit (PVV) auf. Schließlich lagen beide politische Kontrahenten lange Zeit gleich auf.
Seit heute steht fest: Der Islam-Hasser Wilders muss sich mit Platz zwei und 26 Sitzen begnügen (hier mehr). Nach Auszählung von rund 99 Prozent der Stimmen lag D66 mit rund 15.000 Stimmen uneinholbar vorn. Die Partei hat auch Aussicht auf ein weiteres Restmandat und käme dann auf 27 der 150 Mandate im Parlament.
Am Montag wird noch das Ergebnis der rund 90.000 Briefwahlstimmen erwartet. Nach der Prognose liegt auch da D66 deutlich vorn. Traditionell hat die Partei mit den meisten Stimmen den Regierungsauftrag und darf versuchen, eine Koalition zu bilden. Beste Aussichten für das Amt des Regierungschefs hat nun der D66-Spitzenkandidat Rob Jetten. Dazu fehlen allerdings noch drei weitere Parteien, um eine Mehrheit von 76 Sitzen zu schmieden. Das zeigt, wie disparat die politische Landschaft in den Niederlanden inzwischen geworden ist.
Und die Rechten sind keineswegs besiegt. Auch wenn Wilders’ PVV ihr letztes Ergebnis als stärkste Kraft einbüßte, holten weitere Parteien am rechten Rand gehörig auf. Das nationalistische Forum für Demokratie (FvD) steigerte sich von drei auf sieben Sitze. Der Rechtsaußenpartei JA21 gelang ein Zuwachs von einem auf neun Sitze. Allein diese drei populistischen Strömungen bringen es vereint auf 42 Sitze. Zum Glück zu wenig, um auch nur in die Nähe von Regierungsverantwortung zu gelangen.
Lesen Sie hier mehr: Mitte-Partei D66 gewinnt Wahl in den Niederlanden
3. Hello, I’m Johann
Außenminister Johann Wadephul (CDU) sieht derzeit keine Aussicht auf eine baldige Rückkehr vieler syrischer Flüchtlinge. Beim Besuch des Vororts Harasta bei Damaskus zeigte er sich erschüttert (hier mehr). Aus Sicherheitsgründen war die Reise geheim gehalten worden. Ein solch großes Ausmaß an Zerstörung habe er persönlich noch nie gesehen. »Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben.« Harasta, eine Stadt einst mit 30.000 Einwohnern, wurde seit 2012 durch Angriffe des Assad-Regimes fast völlig zerstört.
Kommentatoren in konservativen Medien bekamen sogleich Schnappatmung angesichts dieser Sätze. Die »Bild« schreibt, Wadephul handle »in einem der zentralsten Politikfelder« – also Rückführung – gegen die eigene Partei, und die Zeitung fordert, die Syrer sollen ihr Land gefälligst wieder aufbauen – als ob sie es gewesen wären, die es zerstört haben.
Die Infrastruktur in Syrien ist weitgehend kaputt, nur wenige Syrer kehren heim. Deutschland bleibe für integrierte Syrer offen, so Wadephul, stehe aber mit Damaskus wegen Rückführungen schwerer Straftäter in Kontakt. Das kommentierten wiederum Vertreter von SPD und Grünen als »deplatziert«. Irgendwer motzt immer.
In Damaskus traf Wadephul Interimspräsident Ahmed al-Sharaa und Außenminister Asaad al-Shaibani. Deutschland wolle freundschaftliche Beziehungen und unterstütze den Wiederaufbau. Insgesamt stellt Deutschland 2025 über 81 Millionen Euro für Syrien bereit und erhöht seinen Beitrag zum Wiederaufbaufonds um vier Millionen Euro auf 110 Millionen. Im Social-Media-Account des Außenministers , auf dem er mitunter keck als »Wadecool« vermarktet wird, war zu sehen, wie Wadephul beim Gang durch Harasta auf vier Schulkinder stieß. Sie fragten, was er dort eigentlich mache. Er fragte, wie es ihnen gehe. Die Kinder kicherten.
Lesen Sie hier mehr: Wadephul rechnet nicht mit rascher Rückkehr von Syrern
Was heute sonst noch wichtig ist
Erneuter Chefwechsel bei der Stahlsparte von Thyssenkrupp: Nach dem überraschenden Rücktritt von Vorstandschef Dennis Grimm muss die Stahltochter von Thyssenkrupp ihre Führung neu ordnen. Jetzt übernimmt Marie Jaroni das Ruder.
Renten könnten 2026 um 3,7 Prozent steigen: Bundesarbeitsministerin Bas hat den Entwurf für die Entwicklung der Renten 2026 fertiggestellt. Noch ist Abstimmungsarbeit nötig, doch es zeichnet sich ab: Das Plus könnte ähnlich hoch ausfallen wie in diesem Jahr.
US-Angriffe auf mutmaßliche Drogenboote verstoßen laut Uno gegen Menschenrechte: Seit Wochen versenkt das US-Militär Boote im Pazifik und in der Karibik und rechtfertigt das mit dem Kampf gegen Drogenschmuggel. Die Uno fordert Untersuchungen und ein Ende der Attacken.
Meine Lieblingsgeschichte: »Ermittler« ermittelt
Nach dem Einbruch in den Louvre ging ein Bild um die Welt. Es zeigte Polizisten, die etwas gelangweilt den Eingang zum weltberühmten Museum versperrten. Wie zufällig läuft von rechts ein Dandy ins Foto, ausgestattet mit Fedora, einem Trenchcoat, einem Dreiteiler und einem karierten Regenschirm mit Holzgriff. Der perfekte »Detektiv«. Das Bild wurde im Internet heiß diskutiert. Selbst die »New York Times« fragte ungläubig, ob der Typ echt sei oder durch eine KI ins Foto retuschiert wurde.
Er ist echt, und meine Kolleginnen Friederike Röhreke und Kim Staudt haben ihn ausfindig gemacht. Es ist der 15-jährige Pedro Elias Garzon Delvaux. Und er hat mit der Aufklärung des Verbrechens rein gar nichts zu tun. Aber er hat viel Freude daran, sich »klassisch« anzuziehen. Was er sonst noch erzählt und wie er mit seinen »15 Minuten Ruhm« umgeht, lesen Sie hier .
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Hier spricht der virale Louvre-»Detektiv«
Was heute weniger wichtig ist
Transparenter Umgang: Schauspielerin Sydney Sweeney, 28, (»The Voyeurs«, »Euphoria«), zuletzt in der Kritik wegen einer Jeans-Werbung, hielt eine Laudatio bei der »Power of Women«-Gala des Magazins »Variety«. »Heute feiern wir die Kraft der Frauen. Die Kraft zu wachsen, zu kämpfen und an sich zu glauben, wenn es niemand anderes tut«, so Sweeney. Es sei ihr eine Ehre, selbst zu diesen Frauen gezählt zu werden. Aber es gäbe noch eine viel wichtigere Frau als sie, nämlich Christy Martin, die erste Frau, die in die International Boxing Hall of Fame aufgenommen wurde. Martin engagiert sich gegen Geschlechterdiskriminierung und sexuelle Übergriffe. »Sie ist eine wahre Heldin.«
Mini-Hohl
Hier finden Sie den ganzen Hohl.
Cartoon des Tages
Und am Wochenende?
Heute ist Halloween, ein Tag zum Gruseln. Meine Kollegin Annina Metz und meine Kollegen Wolfgang Höbel, Lars-Olav Beier sowie Oliver Kaever haben für Sie gleich vier Filme rausgesucht und besprochen, mit denen Sie sich schaurig ins Wochenende begeben können. »Wenn die Gondeln Trauer tragen« von 1973, »Der Exorzist« von 1973, »Shutter Island« von 2010 und »Das Ding aus einer anderen Welt« von 1951 und 1982. Wenn Sie vom Lauf der Welt noch nicht genug geschockt sind, passt vielleicht einer davon fürs nächste Level.
Ich wünsche Ihnen einen unheimlichen Abend und ein schönes Wochenende. Herzlich
Ihr Janko Tietz, Leiter des SPIEGEL-Nachrichtenressorts
Ministerpräsident Söder (CSU, r.), Arbeitgeberpräsident Dulger beim CDU-Bundesparteitag 2024
Foto: Michael Kappeler / dpaWahlgewinner Jetten
Foto: Robin Utrecht / EPAAußenminister Wadephul bei seinem Besuch in Syrien
Foto:Dominik Butzmann / AA / IMAGO
Polizisten bewachen einen Eingang vom Louvre: Dieses Agenturbild ging viral
Foto:Thibault Camus / AP / dpa
Sydney Sweeney
Foto: Mario Anzuoni / REUTERSAus der »Märkischen Allgemeinen«
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Thomas Plaßmann
James Arness in »Das Ding aus einer anderen Welt« (1951): Eine Klaue, die um sich schlägt
Foto: United Archives / IMAGO